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Schriftzug: Den Opfern christlicher Selbstgerechtigkeit und Intoleranz
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Was du nicht magst, füge nicht anderen zu; das ist das ganze Gesetz; das übrige ist Kommentar; geh und lerne!

»Goldene Regel« nach dem
Pharisäer Hillel (30 v. Chr.-9 n. Chr.)
(gefunden bei Walter Kaufmann)

Wenn ein Atheist tugendhaft lebt, ist das nicht seltsamer, als wenn ein Christ sich zu allerhand Verbrechen hinreißen lässt.

Der franz. Schriftsteller, Philosoph
und Frühaufklärer
Pierre Bayle (1647-1706)
(gefunden bei André Comte-Sponville)

Sittlich sein heißt in Erkenntnis der Beweggründe handeln und dies stets im Hinblick auf die soziale Nützlichkeit.

Der franz. Philosoph und Aufklärer
Paul Thiry d'Holbach (1723-1789)
(gefunden bei Friedrich Hagen)

Tue das Gute um des Menschen willen.

Der Philosoph
Ludwig Feuerbach (1804-1872)
(gefunden bei Joachim Kahl)

Fragt man, ob die Kirche die Völker zur Beobachtung der christlichen Ethik nicht erziehen wollte oder es nicht konnte, so kann die Antwort nur im letzteren Sinne lauten: Sie konnte es nicht. Denn diese in letzter Linie eschatologisch eingestellte Ethik erwies sich in der wirklichen Welt teils als undurchführbar, teils als zu einseitig und insofern unzureichend.

Der Altphilologe und Philosoph
Wilhelm Nestle (1865-1959)

Der ethische Gehalt der "Liebe" schwindet in dem Maße, als der Begriff der Kirche im Sinne der hierarchisch-organisierten, sakramentalen Heilsanstalt sich vordrängt. Die christliche Nächstenliebe reduziert sich mehr und mehr [...] auf die Verbundenheit der rechtgläubigen Brüder und Glieder der rechtgläubigen und alleinseligmachenden Kirche untereinander. Sie hat demgemäß ihr Komplement in Hass und Verachtung gegenüber Ketzern, Juden und heidnischen Götzendienern.

Der reformierte Theologe
Martin Werner (1887-1964)

Wenn, »wer mich isset, um meinetwillen« leben wird (Johannes 6,57), warum sollte man sich die Mühe machen, seine Feinde zu lieben?

Der dt.-amerik. Philosoph
Walter Kaufmann (1921-1980)

Ist der Wertehimmel auch leergefegt, ja durchschaut als von Anfang an leer, die wirklichen Werte wurzeln und wachsen auf der Erde, wo sie gebraucht werden. Sie sind universal und einfach, wenn auch schwer zu verwirklichen.

Der Philosoph und Theologe
Joachim Kahl (*1941)

 

 

 

 

Kam mit Jesus eine neue Ethik in die Welt? 

Neu oder nicht neu: Hat sie das sittliche Verhalten der Menschen positiv verändert?


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Inhalt

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Vorbemerkungen

Wie in fast allen zuvor betrachteten Zusammenhängen steht Jesus hier nicht für den historischen Jesus, sondern für den überlieferten biblischen Jesus alias Jesus Christus oder Christus. Und wenn es um eine mögliche neue Ethik geht, die ja vielleicht mit dem Christentum in die Welt gekommen sein mag, stehen der Analyse nur die im Neuen Testament darauf beziehbaren Worte und Gleichnisse zur Verfügung, die in den meisten Fällen nicht vom historischen Jesus stammen, sondern von den spätantiken Verfassern der überlieferten Texte.

"Ethos, Ritus und Mythos", mit diesen Begriffen beschreibt der Theologe Gerd Theißen (*1943) in seiner Schrift Das Neue Testament die "drei Ausdrucksformen jeder Religion". Diese Beschreibung klingt plausibel. Gleichbedeutend mit dem Begriff Ethos wird häufig der Begriff Moral verwendet. Beide benennen in der Regel den "Grundbestand sittlicher Verhaltensweisen, die bestimmten Wertvorstellungen bzw. Normen verpflichtet sind".

In ähnlichen Zusammenhängen, vor allem im "christlichen" Kontext, wird meist der Begriff Ethik gebraucht. Mit diesem Begriff wird eigentlich eine Teildisziplin der Philosophie bezeichnet, in der es um die Erörterung möglicher Grundlagen einer wertorientierten Gestaltung menschlichen Lebens und Zusammenlebens geht. In der komplexen Gliederung dieses philosophischen Fachgebietes werden Teilaspekte u. a. nach "Art der Begründung ethischer Aussagen" voneinander abgegrenzt. Und da erscheint u. a. "Theologische Ethik", unter der schließlich "Christliche Ethik" eingeordnet ist. Irgendwo fand ich folgende Definition "christlicher Ethik": "eine dem christlichen Glauben gemäße Theorie menschlicher Lebensführung".

Im MANIFEST DES EVOLUTIONÄREN HUMANISMUS weist der Philosoph Michael Schmidt-Salomon (*1967) darauf hin, dass "im alltäglichen (ja selbst im philosophischen!) Sprachverständnis die Begriffe Ethik und Moral meist als Synonyme gebraucht werden". Er widerspricht diesem Sprachverständnis und führt aus, "dass es sich bei Ethik und Moral um diametral entgegengesetzte Ansätze zur Begründung von Verhaltensnormen handelt". Seine Begründung wird im Folgenden gekürzt und unkommentiert zitiert:

"In der Moral geht es um die subjektive Wertigkeit von Menschen vor dem Hintergrund vermeintlich vorgegebener metaphysischer Beurteilungskriterien (gut und böse), in der Ethik hingegen um die objektive Angemessenheit von Handlungen anhand intersubjektiv festgelegter und immer wieder neu festzulegender Spielregeln (fair oder unfair)."

Auch dem amerikanischen Philosophen Ronald Dworkin (1931-2013) war es 

"... wichtig, zwischen der Ethik, die sich um die Frage der gelungenen Lebensführung dreht, und der Moral, in der es darum geht, wie wir uns anderen gegenüber zu verhalten haben, klar zu unterscheiden."

Anmerkung
Diese Feststellung Dworkins fand ich in seinem Buch Gerechtigkeit für Igel, in dem er sich sehr ausführlich mit Werten "in all ihren Erscheinungsformen" auseinandersetzt (S. 33).

In den folgenden Ausführungen geht es nicht um eine saubere Definition und Abgrenzung der verwendeten Begriffe. Vielmehr geht es um das, was gemeinhin als "christliche Ethik" bezeichnet wird, die auf sog. "christlichen Werten" basieren soll, und die, zumindest vom organisierten Christentum und von anderen interessierten Kreisen, auch für säkulare Gesellschaften als unverzichtbares ethisches Rüstzeug angepriesen wird. Ein wichtiger Aspekt wird natürlich auch die Fragestellung sein, worauf sich die Motivation der "Christen" gründet, ihre Lebensführung an diesen "Werten" auszurichten.

Ich behaupte nicht, das betrachtete Thema umfassend bearbeitet zu haben. Da ich jedoch auch hier wieder auf Arbeiten sachkundiger Autoren zurückgreife, hoffe ich, dass insbesondere deren zitierte Gedanken einen klärenden Beitrag leisten werden.

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Grundlegende Texte im Alten  und Neuen Testament

Wenn sich Christen, insbesondere ihre Theologen, über die sog. "christlichen Werte" äußern, dann beziehen sie sich in der Regel auf bestimmte Textstellen in der Bibel. Diese finden sich im Alten Testament bzw. in der Hebräischen Bibel und im Neuen Testament, im "christlichen" Teil der überlieferten Schriften. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit seien im Folgenden einige der einschlägigen Texte genannt:

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Altes Testament
(jüdische Überlieferung)

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Neues Testament
("christliche" Überlieferung)

Anmerkungen
- Die kurze Liste alttestamentlicher Textstellen enthält, über die Zehn Gebote hinaus, nur solche, die in Querverweisen bei entsprechenden neutestamentlichen Texten genannt sind.
- Die aufgezählten neutestamentlichen Textstellen sind, mit einer Ausnahme, ausschließlich den beiden synoptischen Evangelien Matthäus und Lukas entnommen. Die Ausnahme ist das Gleichnis »Jesus und die Ehebrecherin«, das bekanntlich nur im Johannesevangelium vorkommt. Auf den Nachweis analoger Stellen bei Markus und/oder Lukas wurde weitestgehend verzichtet.
- Der Auswahl der Textstellen liegt der von der Evangelischen Kirche in Deutschland herausgegebene Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984 zugrunde.

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Kritische Würdigung einiger grundlegender Texte

Die folgenden Ausführungen, die sich mit ausgewählten Texten eingehender befassen, werden von der zweiten Frage in der Abschnittsüberschrift begleitet: Wenn man in den Texten schon keine neue, genuin "christliche" Ethik findet, hat sie dann wenigstens wichtige Elemente für eine ggf. auch heute noch akzeptable Ethik geliefert und/oder dazu beigetragen, das sittliche Verhalten der Menschen im christlichen Einflussbereich positiv zu verändern?


Die Zehn Gebote (Dekalog)

Im Konfirmandenunterricht, Mitte der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts, waren die Zehn Gebote ein wichtiges Thema. Im Festgottesdienst zur Konfirmation, in dem damals so etwas wie eine mündliche Prüfung stattfand, musste ich die Erklärungsformeln – Was ist das? – zu den beiden ersten Geboten nach Luthers Katechismus auswendig hersagen. Ich war der Einzige, der zwei Texte zu lernen hatte, weil sie so kurz waren.

Als Konfirmand und noch sehr lange danach kam mir nie in den Sinn, die Zehn Gebote zu hinterfragen oder gar zu kritisieren. Das wäre mir wohl als geradezu blasphemisch erschienen.

Im Rahmen meiner erneuten Beschäftigung mit ihnen – nach der intensiven Beschäftigung mit anderen fragwürdigen Aspekten des Christentums – ist das nun völlig anders: Ich stelle fest, dass man kein besonders geschulter Exeget sein muss, um die Fragwürdigkeit einiger Gebote sofort zu erkennen.

Aus meiner persönlichen Sicht sind insbesondere die ersten und die letzen zwei Gebote ganz und gar inakzeptabel: In den ersten beiden, die die angemessene Verehrung des jüdischen Stammesgottes regeln, dem das Christentum seit nunmehr fast 2000 Jahren ebenfalls huldigt und dem es Allmacht, Allwissenheit, Allgüte oder kurz: Vollkommenheit zubilligt, enthüllt sich bei näherer Betrachtung die Fratze eines altorientalischen Despoten, zu dessen hervorstechenden Charakterzügen Intoleranz und Rachsucht zählen. Und die beiden letzten Gebote definieren in archaisch-patriarchalischer Weise das »Weib«, die »Magd« und den »Knecht«, neben dem »Vieh«, als Besitztümer des »Nächsten«!

Eines lässt sich also schon an dieser Stelle vorwegnehmen: Fundamentale ethische Werte moderner Gesellschaften wie Menschenwürde, Meinungsfreiheit oder Gleichheit der Geschlechter lassen sich aus den angesprochenen vier Geboten jedenfalls nicht ableiten.

Die im Alten Testament enthaltene Vorlage für die Zehn Gebote (2. Mose 20,2-17), die nach dem Babylonischen Exil des jüdischen Volkes, etwa seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert, in einem langen Prozess entwickelt wurde, erhielt ihre endgültige Form erst mit der Festlegung des Kanons der Hebräischen Bibel um 100 n. Chr. Sie ist demnach bis zu 2500 Jahre alt. Nun ist das Alter dieser Vorlage an sich noch nichts Negatives. Dennoch ist die Frage erlaubt, ob die darauf basierenden Zehn Gebote für Menschen des 21. Jahrhunderts noch relevant sein können.

Der Theologe Heinz-Werner Kubitza äußert sich in seinem oben erwähnten Buch Der Jesuswahn, im Kapitel Auf der Suche nach den christlichen Werten, zum "Wert und Unwert der Zehn Gebote". Einleitend stellt er fest:

"Zu christlicher Ethik fallen vielen Menschen oft zuerst die Zehn Gebote ein. In Sonntagsreden von Politikern werden sie gerne als Grundlage einer humanen und gerechten Gesellschaft bezeichnet. Sie gehören zu den populärsten Texten des Alten Testaments. Doch können sie wirklich dem Anspruch an eine verantwortungsvolle Ethik gerecht werden?
[…]
Die Zehn Gebote sind gerichtet an das fiktive Volk Israel, das in der Zeit nach dem babylonischen Exil als eigenständiges politisches Gebilde gar nicht mehr bestand. Es ist ein Gesetzestext, der mit uns vielleicht ebenso wenig zu tun haben sollte wie der Codex Hammurabi, den man im Louvre heute noch bestaunen kann. Kann ein solcher Text für uns heute eine ethische Relevanz haben?"

Nach einer nüchternen, detaillierten Analyse des Dekalogs formuliert Kubitza ein ernüchterndes Resultat:

"Den Zehn Geboten fehlen demnach elementare Menschenrechte. Sie spiegeln eine Gesellschaft wider, die, man möchte sagen, Gott sei Dank vorbei ist. Das ethische Niveau eines modernen Verfassungsstaats ist deutlich höher und anspruchsvoller als das, was Kirchen und Gläubige einem hier aufschwatzen wollen. Überhaupt blieben bei einer kritischen Analyse von zehn Geboten bestenfalls drei übrig, die mit den Prinzipien einer freiheitlichen Grundordnung einigermaßen zu vereinbaren sind. Viel höher ist dagegen die Zahl der Gebote, die explizit oder implizit einer solchen Ordnung widersprechen. Es ist deshalb absurd, ausgerechnet die Zehn Gebote als positive Grundlage einer Ethik sehen zu wollen. Gerade sie sind es nicht. Christliche Politiker, die dies immer noch in Sonntagsreden spazieren tragen, wissen offensichtlich nicht wovon sie reden."

Anmerkung
Hervorhebungen im vorausgehenden Zitat stammen vom Autor der Site.

Beim Philosophen und Theologen Joachim Kahl (*1941) fand ich ebenfalls einleuchtende Gedanken zum Thema. In seinem grundlegenden Buch Weltlicher Humanismus stellt er die Zehn Gebote "auf den Prüfstand" und bescheinigt ihnen einen "archaisch-repressiven Charakter – verdichtet in den ersten drei Geboten":

"Die ersten drei Gebote des Dekalogs sind geprägt vom Ungeist der Intoleranz, des Fanatismus, der Aggression, der Verfolgung. Die späteren Gräuel der Inquisition, des Hexenwahns, der Bilder- und Tempelstürmer, der christlichen Religionskriege sind hier angelegt. Wir tun gut daran, sie im Giftschrank des religions- und völkerkundlichen Museums zu belassen – gut sichtbar."

Anmerkung
Kahl spricht von den "ersten drei Geboten", in denen die "Gottesverehrung" geregelt wird. Er folgt damit nicht der in Luthers Kleinem Katechismus (s. hier) verwendeten Abfolge der Zehn Gebote, sondern er bezieht sich auf die jüdische Zählung. In dieser wird das sog. "Bilderverbot" (»Du sollst dir kein Bildnis machen …«), das in Luthers Version fehlt, als zweites Gebot geführt. Der Inhalt des zehnten Gebotes nach jüdischer Tradition verteilt sich bei Luther auf die Gebote neun und zehn. Die sowohl in der jüdischen als auch in der christlichen Religion wichtige Zahl zehn bleibt erhalten. 

Joachim Kahl kommt dann bei der Analyse der Gebote vier bis zehn zu einem anderen Ergebnis als Kubitza. Er sieht in ihnen, bei allen festzustellenden ethischen Defiziten, erhaltenswerte Ansätze. Und er sucht nach möglicherweise vorhandenen "unverzichtbaren Regeln des Zusammenlebens", die sich ggf. durch eine Neuformulierung in unsere Zeit hinüberretten ließen. Er schreibt:

"Die kritische Analyse des Dekalogs erstreckt sich nicht nur auf die ersten drei Gebote, die die Gottesverehrung regeln. Auch die übrigen sieben Gebote, die das menschliche Zusammenleben ordnen sollen, sind betroffen. Das inhaltlich Veraltete und Zurückweisende springt auch hier ins Auge. Und doch stellt sich die Aufgabe, die darin gleichwohl enthaltenen Zeit übergreifenden Errungenschaften der jüdisch-christlichen Tradition zu erkennen, zu retten, neu zu formulieren.

Im Dekalog sind soziale Ressourcen enthalten, auf die wir nicht verzichten können. Sie enthalten zwar keine begeisternde Vision wie etwa "Freiheit – Gleichheit – Geschwisterlichkeit". Aber sie formulieren ein elementares, lebensnotwendiges Minimum, gleichsam einen eisernen Bestand, der – gerade angesichts einer Spaß- und Spottmentalität – nicht verloren gehen darf. Mein Vorschlag für eine modernisierte, humanisierte und neu systematisierte Fassung der Gebote vier bis zehn lautet: Habe Respekt vor dem Leben. Habe Respekt vor dem Eigentum. Habe Respekt vor der Wahrheit. Habe Respekt vor den Eltern. Habe Respekt vor der Ehe. Habe Respekt vor dem Rhythmus von sechs Tagen Arbeit und einem Tag Ruhe."

Kahl belässt es nicht bei der Kurzform seiner neuformulierten Regeln, sondern legt im Einzelnen dar, was er inhaltlich mit ihnen verbindet. Abschließend stellt er fest:

"Die hier vorgenommene tastende, rettende und öffnende Neuformulierung von sieben der zehn mosaischen Gebote ersetzt keine eigenständige systematische weltlich-humanistische Ethik. Es soll nur gezeigt werden, dass auch im religiösen Kulturerbe wertvolle Schätze ruhen können, die auf ihre baldige Wiederentdeckung und pflegliche Anverwandlung warten. Ist der Wertehimmel auch leergefegt, ja durchschaut als von Anfang an leer, die wirklichen Werte wurzeln und wachsen auf der Erde, wo sie gebraucht werden. Sie sind universal und einfach, wenn auch schwer zu verwirklichen.

Anmerkung
Hervorhebungen in den vorausgehenden Kahl-Zitaten stammen vom Autor der Site.

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Die Bergpredigt
(Mt Kap. 5-7)

Die im Matthäusevangelium überlieferte »Bergpredigt« ist in der uns heute vorliegenden Form wahrscheinlich nie gehalten worden. Der oder die ursprüngliche/n Verfasser sind, wie der Theologe Gerd Theißen (*1943) vermutet, durch die ihnen vorliegende Logienquelle Q dazu inspiriert worden, ihr Evangelium "durch fünf Reden zu strukturieren", wobei jede "gewissermaßen eine kleine »Logienquelle«" sei. Die erste "Rede" ist die »Bergpredigt«, in der wohl verschiedene Elemente aus Q sowie aus mündlicher Überlieferung redaktionell zusammengefasst wurden. Die »Bergpredigt« spielt nicht nur in der kirchlichen Verkündigung, sondern auch im Bewusstsein der Gläubigen eine wichtige Rolle. Neben den Zehn Geboten sind insbesondere Teile der »Bergpredigt« für das organisierte Christentum eine wichtige Grundlage "christlicher" Ethik. Einige Elemente daraus werden im Folgenden näher betrachtet.

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Bergpredigt – Die Seligpreisungen
(Mt 5,3-12)
Nach meinem Eindruck haben die »Seligpreisungen« früher in der kirchlichen Verkündigung eine größere Rolle gespielt als heute. Mir erscheinen sie, was wohl dem früheren intensiven Gebrauch geschuldet ist, als stark "abgenutzt". Darüber hinaus stellt sich z. B. die Frage: Was heißt eigentlich »selig«? Kann man es mit glücklich übersetzen? Jedenfalls scheint mit diesem Wort eine Art Auszeichnung verbunden zu sein. Letztere kommt ja z. B. auch in der Praxis der Seligsprechung der römischen Kirche zum Ausdruck.

Wenn man sich die einzelnen Seligpreisungen näher anschaut, dann beziehen sie sich im Wesentlichen auf Menschen, die ganz bestimmte Eigenschaften besitzen (z. B. »die geistlich arm sind«, »die Sanftmütigen«, »die reinen Herzens sind«) oder um solche, die in unbefriedigenden, ja bedrohlichen, Lebensumständen ausharren müssen (z. B. »die da Leid tragen«, »die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit«, »die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden«). Und all diesen "Ausgezeichneten" werden märchenhafte Belohnungen in Aussicht gestellt: u. a. »ihrer ist das Himmelreich«, »sie werden das Erdreich besitzen«!

Nach der neunten Seligpreisung, in der sich Jesus, anders als in den acht vorher aufgezählten, wohl direkt an seine Jünger wendet, folgt das Versprechen: »Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden.«

Alle "Ausgezeichneten" werden im Jenseits belohnt. Das ist die zentrale Aussage dieses Textes. Und implizit ergeht der Appell an alle Zuhörer: Strebt danach, zu den "Ausgezeichneten" zu gehören oder anders ausgedrückt: Strebt zu allererst nach eurem persönlichen Heil. Passives Hoffen auf eine unvergleichlich viel bessere Zukunft im »Himmelreich« steht hier also im Vordergrund. Mit keinem einzigen Wort wird so etwas wie das aktive Bemühen um eine Veränderung sozialer Missstände angeregt. Ein derartiges Anliegen stand ganz offensichtlich nicht im Mittelpunkt der Lehre Jesu.

Beim deutsch-amerikanischen Philosophen Walter Kaufmann (1921-1980) fand ich eine plausible Erklärung für diese im überlieferten Text sichtbare Tendenz. Er sah die Ursachen in den gesellschaftlichen Umwälzungen und in "der Veränderung des geistigen Klimas" zur der Zeit Jesu:

"Ein Volk nach dem anderen hatte seine Unabhängigkeit und seine kulturelle Schöpferkraft verloren. Die Sorge um das Jenseits war allgemein geworden, und Millionen waren bereit, sich in der Hoffnung auf ein besseres Jenseits mit dieser Welt resigniert abzufinden. […] Alle möglichen Mysterienreligionen verschmolzen ihre Träume von einem übernatürlichen Heil. Große Volksmassen glaubten, dass es in dieser Welt nichts mehr gebe, für das sich zu leben lohnte."

Ansätze für die Formulierung einer Ethik, die heutigen Ansprüchen an ein solches Regelwerk genügen würden, lassen sich aus den »Seligpreisungen«, sowohl aus individual- als auch aus sozialethischer Sicht, eher nicht ableiten.

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Bergpredigt – Die Antithesen
(Mt 5,21-48)
Im Judentum war es lange Tradition, dass es zu den Geboten, die entweder in der Tora (5 Bücher Mose) enthalten waren oder von Rabbinern (jüdische Geistliche) vorgegeben wurden, abweichende Meinungen verschiedener rabbinischer Schulen gab. Diese Tradition spiegelt sich in der Struktur der sog. Antithesen in der »Bergpredigt« wider: »Ihr habt gehört, dass gesagt ist: …. Ich aber sage euch: ….«

Zwei dieser Antithesen habe ich immer als besonders merkwürdig empfunden: »Vom Töten« und »Vom Ehebrechen«. Ich empfand es immer als sehr fremd, dass die im fünften und im sechsten Gebot klar und unmissverständlich formulierten Aussagen – »du sollst nicht töten«, »du sollst nicht ehebrechen« – in unglaublicher Weise verschärft werden. Die strafwürdige Handlung ist im ersten Fall schon vollzogen, wenn man seinen Bruder einen »Narr« nennt und im zweiten Fall, wenn man »eine Frau ansieht, sie zu begehren«. Hinzu kommt, dass die Beschimpfung des Bruders bereits zur Verhängung der Höchststrafe – das höllische Feuer – führt.

Der Theologe Heinz-Werner Kubitza ist der Auffassung, dass es sich bei der Antithese »Vom Töten« um ein sehr "leichtfertiges Wort" handele und er ergänzt:

"Dem frommen Leser jedoch, der von seinem Herrn immer inhaltlich wertvolle Aussagen erwartet, fallen solche geistigen Schnellschüsse gar nicht auf."

Und hinter der Androhung der denkbar grausamsten Bestrafung für ein vergleichsweise harmloses Vergehen – »du Narr« – wird für Kubitza ein "Menschen- und Weltbild" sichtbar, das "positiv gesagt archaisch, negativ ausgedrückt unmenschlich" ist.

Nicht nur auf die eben betrachteten Antithesen bezogen, wenngleich diese als exemplarisch für ähnliche überlieferte Worte gelten können, stellt Kubitza fest:

"Die Forderungen Jesu sind oft derart radikal gehalten, dass sie praktisch von niemand erfüllt werden können. Vermutlich wurden sie deshalb so formuliert. Die Schuldhaftigkeit des Menschen soll damit radikal aufgewiesen werden, wie man vor allem in der protestantischen Theologie betont hat. Doch damit erweisen sich die Forderungen Jesu als für eine praktische Ethik ungeeignet."

Der Philosoph Walter Kaufmann (1921-1980) kommt zu einer ganz ähnlichen Einschätzung. Er sieht, dass, gemessen an der "alten Sittlichkeit" im Judentum, von den überzogenen Forderungen Jesu ein eher negativer Einfluss ausgeht:

"Wenn man es richtig bedenkt, wird die alte Sittlichkeit nicht bewahrt, sondern unterminiert, nicht erweitert, sondern aufgelöst, und keine neue Sittlichkeit tritt an ihre Stelle. Wenn es keinen wesentlichen Unterschied mehr ausmacht, ob man einen Mord begeht oder einen anderen als Narren bezeichnet, ob man die Ehe bricht oder eine Frau begehrlich ansieht, wird die Grundlage jeder Sittlichkeit geleugnet: der entscheidende Unterschied zwischen Impuls und Tat."

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Bergpredigt Vom Tun des göttlichen Willens
/"Goldene Regel" (Mt 7,12)
Ich weiß nicht, seit wann mir der Kinderreim "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg' auch keinem andern zu" vertraut war. Jedenfalls habe ich im Laufe meines Lebens immer wieder wahrgenommen, dass er im allgemeinen Sprachgebrauch als "Goldene Regel" galt. Erst sehr viel später, während meiner intensiveren Beschäftigung mit dem Christentum, stieß ich in den Schriften diverser Theologen auf einen biblischen Vers, den diese ebenfalls als "Goldene Regel" bezeichneten. Der Vers taucht in der Bibel an zwei Stellen auf. Im Matthäusevangelium als Teil der »Bergpredigt« und bei Lukas in kürzerer Form als Bestandteil der »Predigt auf dem Felde« (Lk 6,31). Bei Matthäus, im 7. Kapitel, lautet er:

»12 Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.«

Der Neutestamentler Gerd Theißen (*1943) beschreibt, im Rahmen seiner Ausführungen über das Matthäusevangelium, welche Funktion der Verfasser diesem Vers im textlichen Zusammenhang zuwies:

"In der Goldenen Regel fasst er die wichtigsten Inhalte der Bergpredigt in einem Satz zusammen."

Der Theologe Paul Schulz (*1937) äußert sich ähnlich. In seiner Analyse des Gleichnisses »Der Barmherzige Samariter« schreibt er:

"Alle ähnlichen Beispiele und Aussagen Jesu sind von ihm zusammengefasst in seiner GOLDENEN REGEL.
[…]
Mit der GOLDENEN REGEL macht Jesus den externen Betrachter zum direkten Verantwortlichen gegenüber dem, der in Not ist. Er fordert den Betrachter unabdingbar in die Solidarität mit dem Betroffenen, […].
[…]
Sonst wird diese Regel immer negativ formuliert: Was du nicht willst, das dir die anderen tun, das tue ihnen auch nicht. Dagegen formuliert Jesus nicht verneinend, sondern positiv: Du kannst es. Tu es. Jesus denkt absolut positiv, förderlich, konstruktiv."

Letzteres ist für mich eine typische "Schriftauslegung" nach Theologenart ...

Beim Theologen Heinz-Werner Kubitza fand ich Folgendes:

"Die sogenannte goldene Regel ist ein weiterer Punkt der Ethik Jesu. […] Auch zu dieser Stelle gibt es eine ganze Reihe von jüdischen Parallelen, und zudem noch viele weitere in der Weltliteratur insgesamt. Man kann in der goldenen Regel geradezu ein allgemeines ethisches Gesetz erkennen und findet dieses bei Konfuzius, im Buddhismus, im Hinduismus und im Zoroastrismus. Der Gedanke taucht auch auf in der Philosophie, bei Platon und Epiktet, abgewandelt auch bei Kant. Die Goldene Regel gehört darüber hinaus auch zum Grundbestand dessen, was Kindern pädagogisch vermittelt wird, und ist auch im Vers »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu« im allgemeinen Bewusstsein präsent. […] Der Satz ist jedenfalls nicht Ausdruck einer spezifischen jesuanischen Ethik."

Kubitza scheint den Unterschied zwischen der "Goldenen Regel" im Neuen Testament und ihrer "negativen" Form bei Konfuzius etc. sowie dem auf letztere bezogenen Kinderreim zu übersehen – er nennt sie in einem Atemzug.

Anders als Kubitza unterscheidet sein Kollege Schulz die Regelvarianten sehr deutlich voneinander und bewertet die biblische Version viel höher. Ich teile die Auffassung des Theologen Schulz nicht. Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass die negative Form der Goldenen Regel "den Betrachter" mindestens ebenso "unabdingbar in die Solidarität mit dem Betroffenen fordert" wie die (vermeintlich) positive Variante: Kein Mensch wollte, dass ihn jemand unbeachtet liegen ließe, wenn er sich ganz offensichtlich in großer Not befände.

Persönlich bevorzuge ich daher die sog. "negative" Form dieser Regel - nach dem Pharisäer Hillel oder als Kinderreim. Sie ist für mich die eigentliche GOLDENE REGEL, die in ganz unterschiedlichen Kulturen so etwas wie einen unverzichtbaren, bewusstseinsbildenden Merksatz bzw. eine konsensfähige, elementare Voraussetzung für eine ethisch verantwortbare Lebensführung darstellt.

Ich bin nicht selbst auf den Unterschied zwischen den beiden Regelvarianten gekommen. Erst der deutsch-amerikanische Philosoph Walter Kaufmann (1921-1980) machte mich darauf aufmerksam. In seinem Buch Der Glaube eines Ketzers analysiert er die verbreitete Haltung protestantischer Theologen und argumentiert aus meiner Sicht sehr überzeugend:

"Viel Aufsehen hat man um die Goldene Regel gemacht; als man feststellte, dass der Pharisäer Hillel, ein älterer Zeitgenosse Jesu, die Ethik des Moses und der Propheten in der sogenannten negativen Formel der Goldenen Regel zusammengefasst hatte, der man schon 500 Jahre früher bei Konfuzius begegnet, waren die protestantischen Theologen rasch dabei, diese als die Silberne Regel zu bezeichnen und zu behaupten, dass die Formel Jesu bei weitem überlegen sei. Dazu ist dreierlei zu sagen.

Zuerst einmal kann die negative Fassung in die Praxis umgesetzt werden, was bei der positiven Version nicht der Fall ist, und jeder, der versuchen würde, nach der Regel Jesu zu leben, würde zu einer unerträglichen Belästigung.

Zweitens: Man darf auf keinen Fall eine derartige Formel überbewerten: Man versuche beispielsweise, aus der Regel Jesu eine sexuelle Ethik abzuleiten. Dieses Beispiel veranschaulicht auch das in der ersten Antwort Gesagte.

Schließlich sei an die wundervollen Worte erinnert, mit denen Hobbes den 3. Teil seines Leviathan schloss: »Nicht die bloßen Worte, sondern der Gesichtskreis eines Autors ergibt das wahre Licht, in dem alles Geschriebene gedeutet werden soll; und jene, die auf einzelnen Textstellen bestehen, ohne den Hauptzweck in Betracht zu ziehen, können aus ihnen nichts klar ableiten, sondern indem sie Bruchstücke von Schriften wie Sand vor den Augen der Menschen ausstreuen, machen sie alles dunkler, als es ist – ein üblicher Trick jener, die nicht die Wahrheit suchen, sondern ihren eigenen Vorteil«."

Anmerkungen
- Hervorhebungen im Kaufmann-Zitat stammen vom Autor der Site.
- Walter Kaufmann bezieht sich auf die "negative Formel" des Pharisäers Hillel aus dem Talmud (Talmud Babli, Sabbat 31a): »Was du nicht magst, füge nicht anderen zu; das ist das ganze Gesetz; das übrige ist Kommentar; geh und lerne!«
- Die von Kaufmann zitierte Äußerung des englischen Staatstheoretikers und Philosophen Thomas Hobbes (1588-1679) lässt sich m. E. ganz generell auf die selektive Handhabung der biblischen Schriften in Kanzelreden und offiziellen Verlautbarungen der Kirchen beziehen.

Der Unterschied zwischen den beiden Fassungen wird deutlicher, wenn man die goldene Regel nach Matthäus analog in einen Kinderreim überträgt: Was du willst, das man dir tu, das füg' auch allen andern zu.

Die neutestamentliche (Goldene) Regel basiert nach meiner Auffassung auf einem Menschenbild, das individuelle Unterschiede negiert oder zumindest ignoriert. Es handelt sich um ein Menschenbild, das im organisierten Christentum bis heute weit verbreitet ist, und das dazu führt, dass "Christen", insbesondere "christliche" Theologen, Gefahr laufen, ihre eigenen Bedürfnisse und Überzeugungen zum Maßstab zu erheben und daher immer ganz genau zu wissen, was ihren Mitmenschen gut tut. In den finstersten Epochen des Christentums war diese Haltung sicher mitverantwortlich für Übergriffe aller Art und für die Ausprägung einer brandgefährlichen Intoleranz gegenüber allen, die anders dachten und sich nicht jeder aufgedrückten Glaubensmeinung ohne Weiteres fügen wollten.

Die eben skizzierten, aus der Geschichte des Christentums hinlänglich bekannten und vielen neutestamentlichen Texten anhaftenden, "Risiken und Nebenwirkungen" treten bei der sog. "negativen" Form der Goldenen Regel gar nicht erst auf.

In diesem Zusammenhang bin ich auf ein Wort des griechischen Philosophen Epikur (341-271/270 vor Chr.) aufmerksam geworden, in dem sehr überzeugend jene Haltung sichtbar wird, die insbesondere, und zwar ganz explizit, auch in der "negativen" Form der Goldenen Regel zum Ausdruck kommt: 

"Die Gerechtigkeit ist eine Übereinkunft, die einen Nutzen im Auge hat, nämlich einander nicht zu schädigen und voneinander nicht Schaden zu erleiden." 

Wer die von Epikur gemeinte "Übereinkunft" beherzigt und selbstverpflichtend zur Grundlage seiner Handlungen macht, kann dann  und nur dann  natürlich auch nach der im Neuen Testament enthaltenen Verhaltensregel leben: Die in ihr schlummernden "Risiken und Nebenwirkungen" wären damit weitgehend gebannt.

Anmerkung
Das zitierte Wort Epikurs, einer seiner "Hauptlehrsätze", fand ich hier.

Abschließend greife ich nochmals eine, weiter oben schon erwähnte, Relativierung Walter Kaufmanns auf. Er meinte, dass man eine "derartige Formel" – er bezog sich auf die »Goldene Regel« (in ihrer fragwürdigen biblischen Fassung) – "auf keinen Fall überbewerten" dürfe. 

Ich meine, dass es auf jeden Fall nicht genügt, sie zu kennen. Damit Formeln oder Merksätze dieser Art, und das gilt m. E. grundsätzlich für alle "derartigen Formeln", ihre gewünschte positive Wirkung überhaupt entfalten können, bedarf es einer unabdingbaren Voraussetzung bei den handelnden Individuen: Es bedarf einer Fähigkeit, die Christen Nächstenliebe nennen, für die ich eher den Begriff Empathie verwende. Diese Fähigkeit, die "im Verlaufe der natur- und kulturgeschichtlichen Entwicklung (des Menschen) ausgebildet worden" ist (Helmut Groos, s. hier), besitzen zumindest alle Menschen, bei denen sie nicht durch ungünstige Sozialisationsbedingungen, während ihrer Kindheit und Jugend, verkümmerte oder gar verloren ging. 

Ich wage zu behaupten, dass sich, unter günstigen Bedingungen, neben dieser – möglichst unbeschädigt gebliebenen – (Basis-)Fähigkeit, Einsichtsvermögen, Handlungsbereitschaft und Pflichtbewusstsein ausbilden. Ich kenne zwar keine einschlägigen soziologischen oder neurowissenschaftlichen Studien zu diesem Thema, meine jedoch, dass auf diese Weise sozialisierte Menschen wahrscheinlich nicht auf Formeln oder Merksätze als Gedächtnisstütze oder Handlungsanweisung angewiesen sind, um  ethisch und moralisch –  angemessen zu handeln. 

Im Übrigen könnte m. E. ein flächendeckender säkularer Ethikunterricht in den Schulen einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Sozialisationsbedingungen in Familien und Gesellschaft leisten …

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Vom Weltgericht
(Mt 25,31-46)
Die Kapitel 24 und 25 des Matthäusevangeliums sind überschrieben mit »Jesu Rede über die Endzeit«. Es ist die fünfte und letzte, die sog. "eschatologische Rede". Die letzten Verse dieser "Rede" tragen die Überschrift »Vom Weltgericht«. In der offiziellen Bibelausgabe ist darin ein einziger Satz durch Fettdruck hervorgehoben. Er lautet:

»40a Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.«

Diesen Spruch habe ich von Theologen und anderen Christen immer wieder gehört, wenn es um die sog. "christlichen Werte" ging, zu denen vor allem die "Nächstenliebe" zählen soll. Er ist mir auch als Appell, als Aufruf zu "christlichem" Handeln begegnet. Nie habe ich gleichzeitig einen Hinweis wahrgenommen, dass dieser Satz aus einem größeren Zusammenhang herausgerissen war. Heute gehe ich davon aus, dass dies aus Unkenntnis geschah oder aber geflissentlich verschwiegen wurde. Den meisten Christen ist wohl nicht bekannt, dass dieser Satz Bestandteil der Rede des "Weltenrichters" Christus ist, der »auf dem Thron seiner Herrlichkeit« das »Jüngste Gericht« vollzieht: »die Schafe zu seiner Rechten« und »die Böcke zur Linken«!

Das, was jemand in ähnlichem Zusammenhang einmal geäußert hat, gilt hier ganz besonders: In der eschatologischen Rede zeigt sich der blanke "Terror der Metaphysik der Endzeit".

Auch der Neutestamentler Gerd Theißen (*1943) erwähnt den Zusammenhang in seinen Ausführungen über das Matthäusevangelium mit keinem Wort. Vielmehr umschreibt er den Inhalt des letzten Abschnitts dieser "Rede", weitestgehend entschärft, mit den Worten:

"Am Schluss der letzten Rede Jesu steht eine Aufzählung der sechs Taten der Barmherzigkeit. Unabhängig davon, ob sie Juden, Christen oder Heiden sind, werden alle Menschen vom Weltenrichter daran gemessen, ob sie ihm in seinen geringsten Brüdern geholfen haben."

Ich halte Theißen zugute, dass er die psychoterroristischen Aspekte des hier diskutierten Bibelausschnitts wohlüberlegt verschweigt. Ich gehe davon aus, dass er, als einer der aufgeklärteren Theologen unserer Zeit, folgende Feststellung Bultmanns kennt und vielleicht sogar gutheißt: »Die mythische Eschatologie ist erledigt« (s. hier).

Wer nicht nur die eine Zeile, sondern den gesamten Abschnitt »Vom Weltgericht« nüchtern und unvoreingenommen liest, der kommt fast zwangsläufig zu der Auffassung, dass Christus der "Weltenrichter" in Texten wie diesem als (vorgebliche) göttliche Autorität, vor allem in den unendlich lange andauernden finstersten Epochen des Christentums, zu einem zweifelhaften Zweck missbraucht wurde und in großen Teilen des organisierten Christentums heute noch missbraucht wird: Weniger informierte und eher leichtgläubige Menschen wurden und werden nicht nur zur Autoritätsgläubigkeit verleitet, sondern in unverantwortlicher Weise zu ethisch fragwürdigem Entlohnungsdenken angestiftet. Und letzteres ist das genaue Gegenteil von einem Antrieb zu ethisch verantwortbarem Handeln, der auf eigener Erkenntnis und Einsicht beruht.

In seinem Buch Die Entstehung des christlichen Dogmas äußert sich der Theologe Martin Werner (1887-1964) über eine sehr frühe Phase des Urchristentums und über die darauf folgende negative Weiterentwicklung aufgrund der »Parusieverzögerung« und aufgrund der Umformung der frühen Kirche zur "hierarchisch-organisierten, sakramentalen Heilsanstalt". Wenn seine Einschätzung zutrifft, müsste ich ggf. das, was ich im vorausgehenden Abschnitt über das Entlohnungsdenken formuliert habe, zumindest für die früheste Entwicklungsstufe des Christentums, relativieren. Bei ihm lässt sich Folgendes nachlesen:

"Hat das Urchristentum sich infolge seiner eschatologischen Naherwartung nicht mit den ethischen Problemen des allgemeinen gesellschaftlichen Daseins befasst, so hat es doch in dieser Haltung ein Ethos gelebt, dessen Größe darin bestand, dass es durch positives ethisches Wollen im Sinne einer gehaltreichen Individualethik mit ganzem Einsatz für eine Ordnung einer neuen Welt demonstrierte, die besser wäre als die bestehende, und auf deren Kommen es sich in dieser Weise rüstet.

Diese große Zielsetzung und Haltung des urchristlich-eschatologischen Ethos bei Jesus und Paulus ist für die kirchliche Ethik der Folgezeit im Prozess der Enteschatologisierung d. h. im Erlahmen der Naherwartung infolge der andauernden Parusieverzögerung verloren gegangen*). Es wächst die Neigung, die nicht-gesetzlichen Wesenszüge der Ethik Jesu zu übersehen und sie ins Gesetzliche zu veräußerlichen. Die Lohn- und Vergeltungsrechnung spielt schließlich eine entscheidende Rolle. Der ethische Gehalt der "Liebe" schwindet in dem Maße, als der Begriff der Kirche im Sinne der hierarchisch-organisierten, sakramentalen Heilsanstalt sich vordrängt. Die christliche Nächstenliebe reduziert sich mehr und mehr – schon in den johanneischen Schriften des NT wird diese Entwicklung bemerkbar – auf die Verbundenheit der rechtgläubigen Brüder und Glieder der rechtgläubigen und alleinseligmachenden Kirche untereinander. Sie hat demgemäß ihr Komplement in Hass und Verachtung gegenüber Ketzern, Juden und heidnischen Götzendienern.

*) Der Grundsatz der Verdienstlichkeit der guten Werke wird zum beherrschenden Grundmotiv der kirchlichen Ethik. Im 4. Jahrhundert ist man soweit, die Katechumenen rundweg zu belehren: »Die Wurzel jeder guten Tat ist die Hoffnung auf die Auferstehung; denn die Erwartung des Lohnes ist es, welche die Seele anspannt zu guten Werken« (so Cyrill von Jerusalem [...]). Für Cyrill von Jerusalem gilt dieser Satz so allgemein, grundsätzlich und selbstverständlich, dass er beifügt: »Wie käme überhaupt ein Mensch dazu, Gott zu dienen ohne den Glauben, dass er ihm zum lohnenden Vergelter werde?«"

Ich denke, dass man vielen aktiven Mitgliedern des heutigen organisierten Christentums Unrecht täte, würde man die von Werner kritisch gewürdigte Haltung jener frühen Christen, für die die "Naherwartung" zunehmend an Wichtigkeit eingebüßt hatte, pauschal auf sie übertragen.

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Gleichnisse – Der barmherzige Samariter
(Lk 10,30a-35)
In die Liste der für den betrachteten Zusammenhang grundlegenden Texte im Alten - und Neuen Testament (s. oben), habe ich am Ende drei Gleichnisse aufgenommen. Es sind Texte, die mir als wichtig erscheinen, weil in ihnen modellhaft und besonders glaubwürdig der ethische Grundwert »Nächstenliebe« veranschaulicht wird. Es sind die Gleichnisse Der barmherzige Samariter, Vom verlorenen Sohn und Jesus und die Ehebrecherin.

Das letztgenannte, das nur im Johannesevangelium vorkommt, stammt nicht von Jesus. Es ist eine Fälschung (s. hier). Ich halte es dennoch für wichtig, weil es über das individualethische Verhalten Jesu hinaus einen sozialethischen Aspekt transportiert: den Anstoß zur Abkehr von archaischer Rechtsprechung und entsprechendem Strafvollzug.

Die beiden anderen Gleichnisse sind nur im Lukasevangelium enthalten, daher werden sie auch als "Lukanisches Sondergut" bezeichnet. Niemand weiß mit letzter Gewissheit, ob diese Worte auf den historischen Jesus zurückgehen. Zweifel sind angebracht: Wenn sie auf den historischen Jesus zurückgingen, stellte sich doch die Frage, warum diese wichtigen Worte von Markus und Matthäus unterschlagen wurden. Im Folgenden wird nur das Gleichnis Der barmherzige Samariter näher betrachtet.

Ich beziehe mich auf Gedanken des kritischen Theologen Paul Schulz (*1937), der sich zu einem "Atheistischen Glauben" bekennt, sich aber dennoch sehr intensiv mit Jesus auseinandergesetzt hat. Seiner Auffassung nach "war Jesus ganz anders", und zwar "völlig anders als jenes Bild, das die Kirche sich in den letzten 2000 Jahren von ihm gemacht hat." Den kirchlichen Theologen hält er vor, dass sie dies wüssten, es aber nicht sagten. Und er begründet seine Position:

"Es geht mir hier […] nur um das eine Anliegen, den zentralen Gedanken der andersartigen Botschaft Jesu von Nazareth zusammenfassend klar zur Sprache zu bringen. Ich gehe dabei exemplarisch von einem einzigen Jesus-Text aus, nämlich von Jesu altbekannter Beispielgeschichte vom BARMHERZIGEN SAMARITER."

Anhand dieses Gleichnisses arbeitet er Grundzüge der jesuanischen Botschaft heraus. Ich kann nicht allen zustimmen, die folgenden finde ich jedoch plausibel:

"Dieses Gleichnis gehört zu den verba ipsissima Jesu, zu den Jesus-Worten also, die die Mehrzahl der Jesus-Forscher heute für echt halten. Jesus beschreibt mit dieser Geschichte einen Modellfall für ethisch verantwortliches Handeln und damit das Zentralanliegen seiner Botschaft.
[…]
Gott kommt als Handlungsmotivation in dieser Geschichte nicht vor. Auch in allen anderen gleichgelagerten Texten nicht. Jesus hatte zwar ein sehr enges Gottesverhältnis, nannte Gott intim abba – Väterchen. Nirgends aber führt Jesus Gott als Begründung für das ethische Handeln des Menschen an. Ich spreche deshalb bei Jesus von einer atheistischen Ethik, von einer Ethik ohne Gott.

Die Motivation zum Handeln ist für den Samariter allein das Elend des Opfers. […] Das Handlungsmotiv liegt ganz allein in der Mitverantwortung für den Leidenden, also in der helfenden Zuwendung zum Nächsten. Jesus verkündet eine nützliche Humanität.
[…]
Es geht Jesus überhaupt nie darum, ob der Mensch vom Wesen her gut oder sündig ist. Jesus ist nicht Paulus. Es geht Jesus nur darum, ob ein Mensch in seiner Situation sachgerecht handelt, ob er sich der guten Sache in seiner kritischen Situation verpflichtet weiß."

«Gott» kommt "als Handlungsmotivation" tatsächlich nicht vor. Das scheinen die Kirchen erfolgreich zu verdrängen. Und noch etwas anderes darf ebenfalls nicht übersehen werden: Jesus predigt Nächstenliebe, hat sie aber nicht erfunden. Auch seine Vorfahren hatten sie nicht erfunden, wenngleich sie die Nächstenliebe zu einer schriftlich fixierten Lebensregel erhoben. Zu jener Regel im Alten Testament muss jedoch relativierend hinzugefügt werden, dass darin ausschließlich die Liebe zum Nächsten im eigenen Volk gemeint war.

Im Buch Woran glaubt ein Atheist? würdigt der französische Philosoph André Comte-Sponville (*1952), der sich selbst als "bekennender Atheist" bezeichnet, die Figur des »barmherzigen Samariters« in nachvollziehbarer Weise:

"Wir wissen nichts von seinem Glauben oder von seinem Verhältnis zum Tod. Er ist nur der Nächste seines Nächsten: Er beweist Mitgefühl und Barmherzigkeit. Und ihn, nicht einen Priester oder Leviten, nennt Jesus uns ausdrücklich als Vorbild. Daraus habe ich geschlossen, dass sich der Wert eines Menschenlebens nicht danach bemisst, ob dieser Mensch an Gott oder an ein Leben nach dem Tod glaubt oder nicht."

Konsequent setzt er seinen Gedankengang fort und erklärt sehr überzeugend, auf welcher gemeinsamen Basis sich "Gläubige" und "Ungläubige" über die Grundaussage des Gleichnisses verständigen könn(t)en:

"Die einzige Wahrheit in Bezug auf diese beiden Fragen ist, dass wir nichts darüber wissen. Nur das trennt uns hier, ob gläubig oder ungläubig: was wir nicht wissen. Das hebt unsere Meinungsverschiedenheiten nicht auf, relativiert aber deren Tragweite. Es wäre Wahnsinn, dem Trennenden, von dem wir nichts wissen, mehr Bedeutung zuzumessen als der Verständigung über das, was wir – aus Erfahrung und mit dem Herzen – sehr gut wissen: dass nicht Glaube oder Hoffnung den Wert eines Menschenlebens ausmachen, sondern in welchem Maße man zu Liebe, Mitgefühl und Gerechtigkeit fähig ist!"

Die Tatsache, dass der biblische Jesus einen Samariter zur Hauptfigur des Gleichnisses macht, also den Angehörigen einer Gruppe des jüdischen Volkes, die wegen ihrer vom Jerusalemer Opferkult abweichenden religiösen Riten ausgegrenzt und verachtet wurde, lässt immerhin vermuten, dass Jesus daran lag, die engen Grenzen des eigenen Volkes zu öffnen. Ob er den Gültigkeitsbereich der Nächstenliebe damit schon auf die gesamte Menschheit ausdehnen wollte, womit ja gern der universale Anspruch in der Praxis des organisierten Christentums begründet wird, ist nicht belegt. 

Der Philosoph und protestantische Theologe Helmut Groos (1900-1996) befasste sich in seinem Buch Christlicher Glaube und intelektuelles Gewissen mit der Herkunft "der christlichen Nächstenliebe und humanitären Güte" und stellte fest, dass sie nicht, wie dies gern von Theologen behauptet wird, auf die "göttliche Liebe" zurückgeführt werden könne,

"denn was an solcher Liebe und Güte in der Menschheit zu finden ist, lässt sich durch die Evolution hinreichend erklären. Dazu wird Gott nicht benötigt. Die Nächstenliebe ist nicht irgendwann irgendwo einmal vom Himmel gefallen, vielmehr wie die Gerechtigkeit als Norm und Praxis des Verhaltens im Verlaufe der natur- und kulturgeschichtlichen Entwicklung ausgebildet worden, …"

An dieser Stelle sei ausdrücklich nicht unterschlagen, wie Groos seinen Gedanken fortsetzt:

"… freilich nirgends so besonders und stark ausgeprägt, betont und verwirklicht wie auf dem Boden des Christentums – das soll nicht von ihm genommen, sondern ihm ausdrücklich bestätigt und hier hervorgehoben werden." (mehr s. hier)

Verwandte Überlegungen fand ich beim großen Psychoanalytiker und Familien- und Sozialtherapeuten Horst-Eberhard Richter (1923-2011). Im Kapitel Das Urphänomen Sympathie als Disposition für Solidarität und Gerechtigkeit seines in 1979 erschienenen Buches Der Gotteskomplex zeigt er auf, wie sich in der Gesellschaft vorherrschende Bewusstseinsstrukturen und die daraus resultierenden Zwänge auf naturgegebene Eigenschaften der menschlichen Individuen auswirken: 

"Unter den Zwängen des Machtprinzips und des egozentrischen Rivalisierens wird die als Sympathie ursprünglich und natürlicherweise gegebene emotionale Beziehung unter allen Einzelwesen kaum mehr wahrgenommen. Nach den magischen Denkern der Renaissance waren es wieder Shaftesbury, dann später Schopenhauer, von Hartmann, Bergson und schließlich Scheler, welche die Sympathie als ein soziales Urphänomen und als die eigentliche Chance zur Begründung eines Zusammenlebens in Solidarität herausgestellt haben."

Und Richter erschien es als wichtig, "den ursprünglichen und eigentlichen Sinn von Sympathie wiederzubeleben".

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Jesu Ethik - Neu oder nicht neu?

Schon nach einer ersten groben Einschätzung lässt sich vermuten, dass die aufgezählten Textstellen keine spezifisch "christlichen" Ideen enthalten. Ganz abgesehen von den alttestamentlichen Schriften, die ja ohnehin aus der Geisteswelt der jüdischen Religion stammen, wurden auch die neutestamentlichen Texte von Menschen aus dem jüdischen Kulturkreis verfasst. Das spiegelt sich ja nicht zuletzt in der Tatsache, dass in diesen "christlichen" Dokumenten immer wieder auf das Alte Testament Bezug genommen wird. Die Verfasser gehörten zudem einem Volk an, das, wie andere spätantike Völker auch, "seine Unabhängigkeit und seine kulturelle Schöpferkraft verloren" hatte, wie dies der deutsch-amerikanische Philosoph Walter Kaufmann (1921-1980) diagnostizierte. Daher ist es eher unwahrscheinlich, dass sie innovative Ideen entwickelten.

Wer in den einschlägigen Textteilen gar ein geschlossenes und in sich schlüssiges Konzept einer "christlichen Ethik" sucht, wird enttäuscht. Das gibt es nicht. Das ist bei der vergleichsweise unsystematischen Herangehensweise der spätantiken Verfasser der Texte auch kaum zu erwarten.

Der Theologe Heinz-Werner Kubitza befasst sich in seinem Buch Der Jesuswahn mit den Fragen "War Jesu Lehre wirklich neu?", "Hat Jesus eine neue Ethik geschaffen?", und er bezieht sich in seiner Antwort auf Forschungsergebnisse anderer Theologen. Er spannt dabei den Bogen von der Frühaufklärung bis zur Gegenwart:

"Hermann Samuel Reimarus, jener Gymnasialprofessor aus Hamburg, dessen Fragmente Lessing in den Jahren 1774-78 herausbrachte, hat als Erster die Meinung vertreten (sie den Mitmenschen gegenüber zu äußern traute er sich noch nicht), dass Jesus mit seiner Verkündigung ganz in den Grenzen des Judentums geblieben sei. […] Seine Anschauung, dass Jesus eine jüdische Ethik vertrat, ist in modifizierter Form auch heute weitgehend Konsens.
[…]
Nach Theißen ist Jesu Ethik jüdische Ethik. Durchbrechungen der Thora habe er nicht zu allgemeinen Gesetzen gemacht.
[…]
Helmut Thielicke betont, Jesus habe »kaum ein Wort gesprochen, das in der rabbinischen Literatur vor ihm nicht wenigstens in ähnlicher Form schon zu lesen wäre«.
[…]
Auch Bultmann sieht in seinem Jesusbuch diesen nicht als Bringer einer neuen Ethik."

Mit Blick auf das »Doppelgebot der Liebe« (Mt 22,35-40), "einem offenbar zentralen Topos in der Verkündigung Jesu" und auf das »Gebot der Feindesliebe« (Mt 5,43-48) stellt Kubitza fest:

"Nicht nur das Liebesgebot findet sich in der Umwelt Jesu, auch die Feindesliebe ist kein Gedanke, den Jesus als Erster gedacht hat, auch wenn das viele Christen immer noch annehmen."

Im Buch Das Neue Testament des Theologen Gerd Theißen (*1943) fand ich noch folgende Aussage:

"Im Urchristentum verband sich […] (wie im hellenistischen Judentum überhaupt) jüdische Gebotsethik mit hellenistischer Einsichtsethik."

An anderer Stelle betont Theißen mit Blick auf das Matthäusevangelium:

"Im MtEv begegnet uns nämlich ein konsequent ethisches Christentum judenchristlicher Prägung."

Schon an dieser Stelle lässt sich die erste Frage in der Abschnittsüberschrift – Kam mit Jesus eine neue Ethik in die Welt? - mit NEIN beantworten. Damit ist gleichzeitig die Frage nach einer genuin "christlichen" Ethik beantwortet.

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"Christliche Ethik"? – Die Position des britischen Philosophen Richard Robinson

Nach einigen Theologen kommt im Folgenden ein Philosoph zu Wort. In seinem Buch An Atheist's Values (Die Werte eines Atheisten) befasst sich der britische Philosoph Richard Robinson (1902-1996) u. a. auch mit "christlicher Ethik". Das Buch geht auf eine Vorlesungsreihe zurück, die er 1964 an der Universität Oxford gehalten hatte.

Im Kapitel Religion trägt ein Abschnitt die Überschrift Die Ethik der synoptischen Evangelien. Darin bemerkt er eingangs, dass viele Menschen zu wissen glauben, was unter christlicher Ethik zu verstehen sei. Demgegenüber betont er, dass es durchaus nicht einfach sei, ein klares Bild von dem zu gewinnen, was christliche Ethik genannt wird. Er weist darauf hin, dass in der fast 2000-jährigen Geschichte des Christentums viele Autoritäten – "Kirchenväter oder Bischöfe oder Doktoren oder Theologen oder Päpste" – die Lehre Jesu, soweit sie überhaupt noch erkennbar ist, ergänzten und/oder veränderten. Hinzu käme, dass sich die Thesen der christlichen Autoritäten häufig widersprächen. Er empfiehlt, sich auf die drei synoptischen Evangelien Markus, Matthäus und Lukas zu konzentrieren, weil die darin überlieferten Inhalte der ursprünglichen Lehre der Zentralfigur Jesus Christus wohl am nächsten kämen, was ja auch dem Stand der Bibelforschung entspricht.

Robinson las die drei Evangelien in dem Bewusstsein, dass es nicht einfach sei, diese uralten Texte zu verstehen und "korrekt zu interpretieren". Am Ende seiner detaillierten Untersuchungen kristallisierten sich für ihn fünf Hauptgebote Jesu heraus:

  • "Liebt Gott,
  • Glaubt an mich,
  • Liebt die Menschen,
  • Seid reinen Herzens,
  • Seid demütig."

Für Robinson folgt daraus eine ganz klare Konsequenz: Ethische Regeln, die in den synoptischen Evangelien nicht vorkommen, später aber vom Christentum aufgenommen und integriert wurden, "tragen das Etikett christlich zu Unrecht".

Er stellt darüber hinaus fest, dass bei Jesus keine ausgefeilte Argumentation für die Einhaltung der Gebote zu finden sei, vielmehr nenne Jesus häufig zwei (Beweg)Gründe, bei denen es sich "ausschließlich um Versprechungen und Drohungen" handele:

"Das Reich Gottes ist nahe."

und

"Wer diese Gebote befolgt, wird im Himmel belohnt, wer sie nicht befolgt, wird Heulen und Zähneklappern erleben."

Ich erlaube mir einige weitergehende Gedanken Robinsons aus dem Buch Das Wunder des Theismus des australischen Philosophen John Leslie Mackie (1917-1981) zu zitieren. Sie sind dort sehr gut zusammengefasst:

"Robinson bemerkt, dass »bestimmte Ideale, die anderswo eine große Rolle spielen, in den synoptischen Evangelien auffallenderweise fehlen«. Zu diesen Idealen gehören Schönheit, Wahrheit, Erkenntnis und Vernunft: »So wie Jesus niemals Erkenntnis empfiehlt, empfiehlt er auch niemals jene Tugend, die nach Erkenntnis strebt und zu Erkenntnis hinführt, nämlich Vernunft. Ganz im Gegenteil; er hält sogar bestimmte Überzeugungen für in sich sündhaft […], wohingegen es für das Ideal der Vernunft wesentlich ist, dass keine Überzeugung moralisch verwerflich sein kann, wenn sie in dem Bestreben, die Wahrheit zu suchen, gewonnen wurde. Jesus fordert immer wieder Glauben; und er versteht darunter die Annahme bestimmter sehr unwahrscheinlicher Dinge, ohne dass man nach Beweisen fragt oder Wahrscheinlichkeiten abwägt; das aber widerspricht der Vernunft«.

Weiter heißt es bei Robinson: »Außer zur Ehescheidung äußert sich Jesus zu keiner sozialen Frage. Wer ihm irgendeine politische Lehre unterstellt, irrt. Er nimmt nicht Stellung zum Krieg, zur Todesstrafe, zum Glücksspiel, zu Fragen der Gerechtigkeit oder der Rechtspflege, zur Güterverteilung, zum Sozialismus, zur Gleichheit des Einkommens, zur Gleichberechtigung der Rassen, zur Chancengleichheit, zur Gewaltherrschaft, zur Freiheit, zur Sklaverei, zur Selbstbestimmung oder zur Empfängnisverhütung. Wenn man unter ›christlich‹ das versteht, was Jesus nach den synoptischen Evangelien gelehrt hat, dann ist weder eine positive noch eine negative Einstellung auch nur zu einer dieser Fragen spezifisch christlich. – Der Jesus der Synoptiker sagt wenig zur Sexualität. […] Wir finden bei Jesus keine Anzeichen jenes fürchterlichen Hasses auf alles Sexuelle, der die spätere Geschichte der christlichen Kirchen so sehr entstellt hat«."

Mackie zitiert dann aus Robinsons abschließender kritischer Würdigung der synoptischen Evangelien:

"»Diese sind gewiss ein schönes und faszinierendes Stück Literatur. Auch verkünden sie das hohe Gebot der Nächstenliebe. Dieses Gebot aber wird überschattet sowohl von der harten, lieblosen Haltung seines Verkünders Jesus als auch von der absoluten Unterordnung eben dieses Gebotes unter die uneinsichtigen Gebote der Gottesliebe und des Glaubens an den Verkünder«.

Robinson fordert uns auf, diese Gebote und die mit ihnen verknüpften Tugenden der Frömmigkeit, des Glaubens und des rückhaltlosen Gottvertrauens abzulehnen. Er erinnert daran, dass »viele der schrecklichsten Taten in der Menschheitsgeschichte aus Frömmigkeit heraus begangen wurden und dass Frömmigkeit für unsere schändlichen Religionskriege verantwortlich ist«. Auch bezeichnet er die Ansicht, etwas zu glauben oder nicht zu glauben könne sündhaft sein, als eine »Lästerung der Vernunft«. Er meint, wir sollten das Gebot der Nächstenliebe akzeptieren »in dem umfassenden Sinn, dass es auf alle Menschen ausgedehnt wird (was Jesus vielleicht intendierte), ja dass es auf alles Leben überhaupt ausgedehnt wird (was Jesus gewiss nicht intendierte)«, sowie außerdem solche aus diesem Gebot sich ergebenden Einstellungen wie Großmut, Güte, Barmherzigkeit und die Bereitschaft zur Beachtung der Goldenen Regel."

Von den fünf Hauptgeboten Jesu, wie er sie aus den synoptischen Evangelien extrahiert hat, hält Robinson nur "Liebt die Menschen", das Gebot der Nächstenliebe also, für akzeptabel. Und das ist, wie oben gezeigt wurde, keine jesuanische oder christliche Errungenschaft. Dennoch ist sie zweifellos wichtiger Bestandteil jener Regeln, die heute mit "christlicher Ethik" umschrieben werden. Es sei erwähnt, dass Mackie dabei eine Einschränkung macht:

"Im Unterschied zu Robinson möchte ich das Gebot, den Nächsten im wörtlichen Sinn wie sich selbst zu lieben, mit einem Fragezeichen versehen. Es erscheint unrealistisch, einen Grad von Altruismus vorzuschreiben, der den meisten Menschen unmöglich ist. Man macht so die Moral zu einem Fantasiegebilde – anstatt zu etwas, dessen Befolgung die Menschen ernsthaft anstreben und gegenseitig voneinander verlangen können."

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"Christliche Ethik"? - Versuch einer kritischen Würdigung

Die erste Frage in der Abschnittsüberschrift – Kam mit Jesus eine neue Ethik in die Welt? – wurde schon weiter oben mit einem klaren NEIN beantwortet. Darüber besteht, soweit ich das einschätzen kann, selbst unter Theologen weitestgehend Konsens, zumindest unter den protestantischen. Somit gibt es auch keine Ethik, die man guten Gewissens mit dem Etikett "christlich" versehen könnte.

Hat die in den neutestamentlichen Schriften überlieferte "Ethik" das sittliche Verhalten der Menschen positiv verändert? Nachdem schon in der Analyse der relevanten überlieferten Texte die Unzulänglichkeiten dieser "Ethik" deutlich wurden, wird die abschließende Antwort auf diese zweite Frage in der folgenden kritischen Würdigung versucht.

Der Altphilologe und Philosoph Wilhelm Nestle (1865-1959) befasst sich in einem Abschnitt seines Buches Die Krisis des Christentums u. a. auch mit der Krisis der christlichen Ethik:

"Denn die K r i s i s  d e r  c h r i s t l i c h e n  E t h i k liegt in der Frage, ob diese noch haltbar sei, wenn man die eschatologischen Voraussetzungen fallen lässt. Dies erfordert aber die Wahrhaftigkeit. Wie viele Leute glauben denn heute noch an den Teufel, den »Beherrscher des Kosmos« und an die Wiederkunft Christi, die seinem höllischen Reich ein Ende machen soll?"

Anmerkung
Nestle bezieht sich auf zwei Stellen im Johannesevangelium: Jh 12,31 und 14,30. In der ihm damals vorliegenden Bibelausgabe wurde der Teufel als »Beherrscher des Kosmos« bezeichnet. In der aktuellen Bibelübersetzung wird der Teufel dort »Fürst dieser Welt« genannt.

Nestle bescheinigt dem Christentum, dass es "den Menschen den Blick für den Ernst des Lebens und für die Macht des Bösen geschärft" habe. Auch wenn ich letzteres mit einem Fragezeichen versehe, kann ich der Fortsetzung von Nestles Gedanken folgen:

"Dieser Ernst kann auch festgehalten werden ohne den Glauben an die christliche Eschatologie mit ihren Vorstellungen von Himmel und Hölle, Weltgericht und Weltuntergang. Mit ihnen schwindet sogar die Todesangst, die das Christentum erst recht in die Welt gebracht, mindestens in ungesunder Weise gesteigert hat. Wie ruhig und schön starb im Altertum Epikur, noch am letzten Tage besorgt für die verwaisten Kinder eines Freundes, und mit wie festem Mut schaute im 19. Jahrhundert der Erzketzer D. Fr. Strauß dem Tode entgegen!"

Im weiteren Verlauf seiner Überlegungen stellt Nestle fest, dass die gesellschaftliche Entwicklung seit der Renaissance und der Reformation zeige "wie weit wir über die Enge der christlichen Ethik hinausgekommen sind und wie ergänzungsbedürftig sich diese für das Streben nach vollem Menschentum erwiesen hat." Und er fährt fort:

"Wir sind also durch die Entwicklung, die die Geschichte der europäischen Menschheit unter der Herrschaft des Christentums, aber auch trotz dem Christentum durchlaufen hat, zwangsläufig wieder zu einer E t h i k  d e r  D i e s s e i t i g k e i t zurückgeführt worden. Das Jenseits als regulative Idee ist immer mehr verblasst und diese Idee war auch nie stark genug, die sittlichen Ideale des Christentums, die Sanftmut, die Liebe, die Brüderlichkeit, in der Welt wirklich zur Geltung zu bringen. Das ganze Mittelalter, die Zeit der unbestrittensten Herrschaft der Kirche, ist voll von Kriegen, Fehden und rohen Sitten und auch in der Zeit nach der Reformation hat die christliche Ethik sich das öffentliche Leben nie zu unterwerfen vermocht. Daher der tiefe R i s s  z w i s c h e n  G l a u b e n  und  L e b e n, […]; denn der Versuch, die ursprünglichen Gegensätze Christentum und Welt in einer »christlichen Welt« zusammenzuschweißen, ist gescheitert."

Und an anderer Stelle bekräftigt er:

"Fragt man, ob die Kirche die Völker zur Beobachtung der christlichen Ethik nicht erziehen wollte oder es nicht konnte, so kann die Antwort nur im letzteren Sinne lauten: Sie konnte es nicht. Denn diese in letzter Linie eschatologisch eingestellte Ethik erwies sich in der wirklichen Welt teils als undurchführbar, teils als zu einseitig und insofern unzureichend."

Der Philosoph Walter Kaufmann (1921-1980) arbeitete ein charakteristisches, die neutestamentlichen Schriften durchziehendes, "Streben" heraus: "die alles überschattende Sorge des einzelnen um sein ewiges Glück – um sein Seelenheil". Als Mitglied und Kenner der jüdischen Religion liegt es für Kaufmann nahe, die charakteristische Geisteshaltung des frühen Christentums mit jener der jüdischen Religion zu vergleichen:

"Die Perspektive der Propheten wird umgekehrt. Auch sie hatten Demut und Liebe gepredigt, aber nicht eine solche Ichbezogenheit. […] Den Menschen wurde aufgetragen, den Nächsten zu lieben und ihn gerecht zu behandeln – um seinetwillen, nicht mit dem selbstsüchtigen Ziel, dadurch der Verdammnis zu entgehen. Jesus und die Evangelien jedoch sind an der sozialen Ungerechtigkeit an sich nicht interessiert: sie stellen den Himmel und das ewige Feuer in den Mittelpunkt.
[…]
Moses und die Propheten hatten ebenfalls oft auf die Zukunft hingewiesen, obgleich kategorische Forderungen für ihren Stil und ihr Pathos kennzeichnender waren. Aber von ihnen ins Auge gefasste Zukunft betraf die menschliche Gemeinschaft, bei Micha und Jesaja sogar die gesamte Menschheit. Der Jesus der Evangelien hingegen appelliert an die Selbstsucht des einzelnen.
Dies mag manchem modernen Leser paradox erscheinen, weil der liberale Protestantismus Millionen davon überzeugt hat, das Wesen des Christentums sei Altruismus und Selbstaufopferung. Aber vielleicht hilft unsere Analyse zu erklären, warum so viele Menschen es für gewiss halten, dass nur sittlich ist, wer an Gott und die Unsterblichkeit glaubt. Nicht selten hört man Leute eingestehen, dass sie keinen Grund mehr hätten, sich sittlich zu verhalten, wenn sie nicht an ein Leben nach dem Tod glaubten. Solche Menschen können nicht einsehen, wie jemand ohne diesen Glauben sittlich zu sein vermag; […].

Es besteht deshalb kein Anlass, von den Formulierungen der bei weitem besten, umfassendsten und sorgfältigsten Untersuchung der »Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen«, jener von Ernst Troeltsch, abzuweichen. Er übertreibt nicht, wenn er die sittlichen Lehren Jesu, wie sie in den Evangelien niedergelegt sind, als »unbegrenzten und unbedingten Individualismus« bezeichnet, wenn er feststellt, dass »an ein Gattungs- und Menschheitsideal an und für sich nicht gedacht« sei, oder wenn er behauptet, dass »jedes Programm einer sozialen Erneuerung« fehle."

Anmerkung
Hervorhebungen im Kaufmann-Zitat stammen vom Autor der Site.

Der australische Philosoph John Leslie Mackie (1917-1981) weist in seiner Kritik darauf hin, dass der "christlichen Ethik" im Verlaufe der fast 2000-jährigen Geschichte des Christentums, neben bedauernswerten, durchaus auch "eher bewundernswerte Elemente" hinzugefügt worden seien:

"Die spätere Tradition der christlichen Ethik hat zur Lehre Jesu einige bedauernswerte Elemente hinzugefügt, wie die Sexualfeindschaft, doch auch viele eher bewundernswerte Elemente, wie das Bemühen um Gerechtigkeit und um die übrigen Voraussetzungen für ein gedeihliches soziales Zusammenleben sowie außerdem die Ideale der Schönheit, der Wahrheit, der Erkenntnis und (bis zu einem gewissen Grad) der Vernunft. Generell aber hat auch die spätere Tradition das Hauptgewicht weiter auf die Erlösung und auf das Leben nach dem Tod gelegt; auch hat sie an der Auffassung festgehalten, Unglaube, ja auch nur der Zweifel oder Kritik am Glauben seien sündhaft, was tendenziell dazu beitrug, Gegner – einschließlich der Anhänger rivalisierender christlicher Bekenntnisse und anderer Religionen – zu verfolgen, die freie Diskussion zu unterbinden, gut begründete wissenschaftliche Wahrheiten wie die Evolutionstheorie (stellenweise selbst heute noch) zu bekämpfen, Irrtümer zu fördern sowie in intellektueller Unredlichkeit zu versuchen, die eigenen wohlbegründeten Glaubenszweifel zu unterdrücken."

Beim Theologen Heinz-Werner Kubitza fand ich unter der Überschrift Abschließendes zur Ethik Jesu folgende Gedanken, einschließlich des Hinweises auf Versuche einer Rechtfertigung der Schwächen dieser Ethik durch Albert Schweitzer (1875-1965) und andere Theologen:

"Wenn er keine neue Ethik gebracht hat, so hat er zumindest ethische Verwirrung gestiftet, wie vor allem an der Bergpredigt Mt 5-7 und der Frage, wie diese zu verstehen sei, deutlich wird. […] Auch hier steht im Hintergrund die Meinung, dass die Bergpredigt nicht praktikabel ist. Ein schöner Vogel, der nicht fliegen kann, zur Erbauung geeignet, aber zum Aufbau eines Gemeinwesens nicht zu gebrauchen. Die eleganteste Lösung ist hier vielleicht das Verständnis der Bergpredigt als Interimsethik, so vertreten z. B. von Albert Schweitzer. Demnach sei die Bergpredigt gar kein allgemeines Gesetz, sondern von Jesus nur vorgesehen für die kurze Zeit bis zur Aufrichtung und Ankunft des Gottesreiches, eine Ethik für zwischendurch, eben Interimsethik. Jesus habe gar keine allgemeinen Regeln geben wollen, warum auch, wenn der neue Äon, das Reich Gottes unmittelbar bevorstand. Und das dies so sei, war für Jesus ausgemachte Sache."

An anderer Stelle schreibt Kubitza über die zweifelhafte ethische Qualität der "Bibel insgesamt":

"[…], auch die Bibel insgesamt wird als Quelle einer verantwortlichen und für eine moderne Gesellschaft brauchbaren Ethik weithin überschätzt. Sie ist eben kein überzeitliches Dokument, wie die Kirchen suggerieren wollen, sondern im Gegenteil wie andere historische Urkunden auch mit zeitbedingten und aus heutiger Sicht auch rückständigen Wertvorstellungen befrachtet. Eigentlich gehört sie aufs Altenteil, muss aber immer noch antreten, um für die Gläubigen und die Kirche Begründungsdienst zu tun und bei der Lebenssinnstiftung zu helfen."

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Fazit

Die Erkenntnisse aus meinen Recherchen lassen nur einen Schluss zu: Das Christentum oder besser: das organisierte Christentum war aufgrund seiner unzulänglichen Ethik, deren Minimalstandard noch nicht einmal eingehalten wurde – am allerwenigsten von seinen führenden Köpfen – gar nicht in der Lage die "Welt" bzw. das Verhalten der Menschen in seinem Einflussbereich positiv zu verändern. Die abschließende Antwort auf die Frage – Hat die in den neutestamentlichen Schriften überlieferte "Ethik" das sittliche Verhalten der Menschen positiv verändert? – kann nur lauten: Nein.

Demgegenüber drängt sich mir eine andere Schlussfolgerung auf: Die Grundlagen für die heute anerkannten ethischen Werte, z. B. für die in modernen Gesellschaften geltenden fundamentalen Rechte, wurden von "heidnischen" Denkern der griechisch-römischen Antike geschaffen.

Der Historiker Rolf Bergmeier (*1940) formuliert schon am Ende des ersten Teils seines Buches Schatten über Europa, in dem er Die antike Kultur im 4. Jahrhundert näher betrachtet, folgendes erstes Fazit:

"Hier am Mittelmeer wird Europa, wird die europäische Kultur geboren. Hier, in der Antike, werden unsere Werte geschaffen. Hier, zwischen dem Kapitol von Rom und der Akropolis in Athen, liegen Europas Wurzeln und nicht im Wüstenstaub Palästinas."

Und den zweiten Teil seines Buches, der die Überschrift Die Auflösung der antiken Kultur ab dem 5. Jahrhundert trägt, beginnt Bergmeier mit den Worten:

"Mitten im Hochsommer spätantiker Bildung bricht im fünften Jahrhundert der Frost ein. Die Schulen schließen, Bibliotheken veröden, Tempel werden zu Steinbrüchen. Theater zu Lagerräumen und die Bürger verlernen das Lesen und Schreiben. Es ist eine Katastrophe, die auch nicht dadurch weniger niederschmetternd wird, dass der Todeskampf der antiken Kultur mehr als einhundert Jahre währt."

In seiner nachfolgenden historischen Analyse der Ursachen des Verfalls der antiken Kultur weist Bergmeier nach, dass die Hauptursache zweifellos in der zerstörerischen Wirkung des von römischen Kaisern ab 380 endgültig durchgesetzten Christentums zu suchen ist. Diese Wirkung bestand vor allem darin, dass die römischen Kaiser in ihren entsprechenden Edikten skrupellosen Kirchenführern die nötige Rückendeckung dabei boten, mit Hilfe vernunftwidriger Dogmen nicht nur die Religionsfreiheit abzuschaffen, sondern insbesondere auch die Freiheit des Denkens.

Eines konnte das organisierte Christentum oder wie Bergmeier es nennt: der "hierarchisch-bürokratische Komplex namens Amtskirche" nicht verhindern, dass sich das Gedankengut griechischer und römischer Denker gewissermaßen in den Untergrund begab, um sich dann zuerst in den, z. T. vom Christentum befreiten, fortschrittlicheren, islamisch beherrschten Gebieten des vorderen Orients, Nordafrikas und Spaniens und später, im Zeitalter der Renaissance, auch im Abendland wieder an der Oberfläche zu zeigen. Es inspirierte dann die geistigen Wegbereiter der Aufklärung, die ihrerseits die Voraussetzungen für die heute vorherrschende Auffassung von einer säkular-humanistisch geprägten Gesellschaft schufen.

In diesem Zusammenhang erscheint es mir als sehr naheliegend, erneut auf ein erhellendes Wort des Theologen, Philosophen und Arztes Albert Schweitzer (1875-1965) zurückzugreifen. Ich war in seiner Schrift Aus meinem Leben und Denken darauf gestoßen und habe es schon einmal auf dieser Website zitiert:

"Das Christentum bedarf des Denkens, um zum Bewusstsein seiner selbst zu gelangen. Jahrhunderte lang hatte es das Gebot der Liebe und der Barmherzigkeit als überlieferte Wahrheit in sich getragen, ohne sich auf Grund desselben gegen die Sklaverei, die Hexenverbrennung, die Folter und so viele andere antike und mittelalterliche Unmenschlichkeiten aufzulehnen. Erst als es den Einfluss des Denkens des Aufklärungszeitalters erfuhr, kam es dazu, den Kampf um die Menschlichkeit zu unternehmen. Diese Erinnerung sollte es für immer vor jeglicher Überhebung dem Denken gegenüber bewahren."

Also erst unter dem "Einfluss des Denkens des Aufklärungszeitalters" hat das organisierte Christentum auch die Erkenntnisse nicht-christlicher Denker, wenn auch zögerlich, adoptiert. Es blieb nicht aus, dass die übernommenen Werte – Grundlage individueller Lebensführung und gesellschaftlichen Zusammenlebens – im Sprachgebrauch von Kirchenführern und Theologen zu "christlichen" Werten mutierten. Und dieses Verständnis hat sich schließlich, auch mit Unterstützung anderer interessierter Gruppen der Gesellschaft, im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit fest etabliert – bis heute. Dass damit in weiten Teilen der Bevölkerung der Eindruck herrscht, diese Werte hätten ihren Ursprung im Christentum und seien schon immer Grundlage kirchlichen Handelns gewesen, ist ein fundamentaler Irrglaube. Dieser Irrglaube spiegelt nicht zuletzt den unter den Verfechtern christlicher Glaubensinhalte weit verbreiteten Mangel an intellektueller Redlichkeit wider.

Immerhin kann den Kirchen zugute gehalten werden, dass sie, nach ihrer seit dem 4. Jahrhundert für etwa 1500 Jahre ausgeübten Schreckensherrschaft über Leib und Leben, Geist und Psyche der Menschen in ihrem Einflussbereich, schließlich dem Druck der von außen eindringenden Erkenntnisse nachgaben und, zumindest was ethische Werte betrifft, in Teilen eine Wandlung vollzogen. Dass diese Wandlung noch nicht in allen Konfessionen weit genug geht, lässt sich z. B. anhand der römisch-katholischen Sexualmoral aufzeigen. Der Philosoph Michael Schmidt-Salomon (*1967) hat im MANIFEST DES EVOLUTIONÄREN HUMANISMUS dazu Folgendes ausgeführt:

"Es bedürfte schon einer ausgefeilten Angstdiktatur, um Homo sapiens zu einem Sexualverhalten zu bewegen, das tatsächlich im Einklang mit den Forderungen des Katholischen Weltkatechismus bzw. der Bibel steht.

Eine Ethik aber, die die Grundbedürfnisse (Interessen) der Menschen derart ignoriert, verdient es nicht, »Ethik« genannt zu werden. Ethik nämlich ist der Versuch, die unter Menschen unweigerlich auftretenden Interessenkonflikte so zu lösen, dass alle Betroffenen diese Lösung als möglichst fair erachten. Dies verlangt ein grundlegendes Verständnis der Bedürfnislagen, die einem Konflikt zugrunde liegen, denn nur auf diese Weise lassen sich widerstreitende Interessen fair gewichten.

Da Religionen darauf angelegt sind, real existierende Bedürfnisse zu ignorieren (oder gar zu verteufeln), statt diese zum zentralen Maßstab der Auseinandersetzung um ein verträgliches Miteinander zu machen, müssen sie notwendigerweise auf ethischem Gebiet versagen. Idealtypischerweise lassen sich ethisches und religiöses Denken kaum miteinander vereinbaren. (Um Missverständnissen vorzubeugen: Das bedeutet keineswegs, dass religiöse Menschen per se nicht ethisch denken könnten, doch in dem Moment, in dem sie ethisch argumentieren, verlassen sie das intellektuelle Hoheitsgebiet ihrer Religion.)"

Abschließend sei nochmals der Historiker Rolf Bergmeier (*1940) zitiert, der der "Amtskirche" kein gutes Zeugnis ausstellt: Er bescheinigt ihr, dass sie, "in dem Wahn, direkten und privilegierten Zugang zur Wahrheit zu haben, mit ihrer überbordenden Macht einen unverantwortlichen Missbrauch betrieb und trotz aller Verletzungen, die sie den Menschen zufügte, immer noch behauptet, die Religion der Liebe" zu vertreten. Dabei sprächen "Berge von Zitaten und Gebirge von Untaten gegen diesen unbescheidenen Anspruch."

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Schlussbemerkungen

Am Schluss der Betrachtungen zur "christlichen" Ethik stellt sich mir die Frage, ob das Christentum, trotz aller Unzulänglichkeiten seiner "Ethik", ausgehend vom Grundsatz der Nächstenliebe, die Chance gehabt hätte, eine humanere Welt zu schaffen. Eine Welt, die im Idealfall durch eine Kultur der Solidarität zwischen Individuen und zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen hätte gekennzeichnet sein können.

Die Fragestellung erscheint mir, bei näherem Hinsehen, doch als ziemlich naiv. Da die meisten frühen Christen eher einer bildungsfernen Schicht der spätantiken Gesellschaft entstammten, ist kaum anzunehmen, dass sie etwa die Lehren Epikurs (341-271/270 v. Chr.) kannten. So dachten sie nicht im Entferntesten an die von diesem antiken Philosophen modellhaft gelebte "humanistische Solidarität". Das hätte ja auch vorausgesetzt, dass in ihrem Bewusstsein, vor allem aber im Bewusstsein der Protagonisten des frühen Christentums, so etwas wie das vernunftgesteuerte "Streben nach Erkenntnis" verankert gewesen wäre. Leider war das Gegenteil der Fall. In seinem Buch Schatten über Europa weist der Historiker Rolf Bergmeier auf die bildungsfeindliche Haltung bedeutender Apostel, Kirchenväter und Heiliger hin:

"Paulus, Tertullian, Laktanz, Origines, Eusebius, Clemens, Hieronymus, Cyprian sie alle lehren die gleiche Botschaft: Bildung sei unnütz, halte von der religiösen Einkehr ab und dürfe, wenn überhaupt, nur zur Interpretation der wahren christlichen Botschaft genutzt werden. In jedem Text damaliger Kirchenführer erkennen wir einen zerstörerischen Fundamentalismus, der sich in der Antipathie gegen die antike Geisteswelt äußert, die als feindlich und verderblich eingestuft wird."

Und was wohl noch schwerwiegendere Folgen hatte, war die Kumpanei mit den Mächtigen der "Welt", die spätestens dann besiegelt wurde, als das frühe Christentum im 4. Jahrhundert den Status der Staatsreligion erlangte. Ethische Prinzipien, wenn auch nur ansatzweise vorhanden, wurden unter einem ungezügelten Streben nach Machtgewinn und Machterhalt begraben.

Die oben erwähnte Chance war wohl keine realistische Option. Was ist also schiefgegangen im Christentum – und zwar schon von Anfang an? Martin Werner (1887-1964) hat Wichtiges dazu gesagt (s. oben). Hier sei ein Abschnitt daraus wiederholt, in dem die vorausgehenden Überlegungen bestätigt werden:

"Der ethische Gehalt der "Liebe" schwindet in dem Maße, als der Begriff der Kirche im Sinne der hierarchisch-organisierten, sakramentalen Heilsanstalt sich vordrängt. Die christliche Nächstenliebe reduziert sich mehr und mehr [...] auf die Verbundenheit der rechtgläubigen Brüder und Glieder der rechtgläubigen und alleinseligmachenden Kirche untereinander. Sie hat demgemäß ihr Komplement in Hass und Verachtung gegenüber Ketzern, Juden und heidnischen Götzendienern."

Mitverantwortlich dafür war, wie Werner aufzeigt, die sog. Parusieverzögerung. Für mich gibt es eine noch bedeutendere Ursache für die katastrophale Fehlentwicklung des Christentums: die Vergottung des Menschen Jesus zur Gottperson Christus. Dieser Vorgang, heute nicht mehr zu verstehen, war für die Menschen der Antike und Spätantike nichts Ungewöhnliches. Seinen Abschluss fand er im 4. Jahrhundert: Der Hauptgegenstand des "christlichen" Vergottungsprozesses wurde damals durch Beschlüsse der Konzile in Nicäa (325) und Konstantinopel (381) – für alle Zeiten – dogmatisch fixiert.

Diese Dogmen beschrieben den neuen Gott Christus als ebenso machtvoll wie den vom jüdischen Stammesgott abgeleiteten "christlichen" Vatergott. Es verwundert daher nicht, dass Christus, neben anderen Beinamen, den nicht mehr steigerungsfähigen Hoheitstitel »Pantokrator« erhielt, was soviel bedeutet wie »Weltenherrscher«. Es verwundert ebenso wenig, dass die führenden Köpfe des Christentums sich als erwählte Teilhaber an der (fantasierten) Weltherrschaft ihres erfundenen Gottes sahen, und die von ihnen durchgesetzten Dogmen bedenkenlos als höchst wirksame Instrumente zu absoluter Herrschaft über die Gläubigen und schließlich auch über die "Welt" missbrauchten.

Wie oben schon erwähnt lassen sich, nach dem Theologen Gerd Theißen (*1943), die "drei Ausdrucksformen jeder Religion" mit den Begriffen "Ethos, Ritus und Mythos" beschreiben. Durch die eben skizzierte negative Entwicklung im Denken und Handeln der Kirchenführer kam es zu einer ungesunden Verschiebung der Gewichte zwischen den "drei Ausdrucksformen": Der "Mythos" vom göttlichen Christus und der mit ihm verknüpfte "Ritus" erhielten ein ungleich viel größeres Gewicht als das "Ethos". Letzteres verblasste und mit ihm eines seiner wichtigsten Elemente: die Nächstenliebe.

Der Grundstein für diese Entwicklung wurde schon in den synoptischen Evangelien gelegt. Der britische Philosoph Richard Robinson (1902-1996) hatte bei der Analyse dieser Schriften fünf Hauptgebote des biblischen Jesus registriert (s. hier). Die beiden ersten und höchsten Gebote lauten: "liebt Gott" und "glaubt an mich". Während bei den Synoptikern noch ein gewisser Rangunterschied zwischen diesen beiden Geboten spürbar ist, gewinnt man beim unbekannten Dichter des Johannesevangeliums, einem religiösen Fantasten mit größenwahnsinnigen Zügen, den Eindruck, dass beide Gebote zu einem verschmelzen. Kapitel 14 dieses Evangeliums, das eine der sieben sog. "Ich-bin-Reden" enthält – »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich« –, beginnt mit den Worten:

»1 Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich!«

Im Kapitel 6 des Johannes-Evangeliums geht es ebenfalls um eine dieser "Reden": »Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten«. Und dort steht ein weiterer folgenschwerer Satz:

»57 Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und ich lebe um des Vaters willen, so wird auch, wer mich isst, leben um meinetwillen.«

Sätze wie dieser haben nicht nur die Mächtigen in der Kirche, sondern auch die unwissenden (Kirch)Gläubigen in ihrem Denken und Handeln zweifellos intensiv beeinflusst. Der Philosoph Walter Kaufmann (1921-1980) stellte einmal fest, dass "Heuchelei" sich "breitmachen" könne, "wo Dogmen und Sakramente im Mittelpunkt stehen." Und er unterstrich seine Feststellung mit dem eben zitierten Satz aus dem Johannesevangelium:

"Wenn, »wer mich isset, um meinetwillen« leben wird (Johannes 6,57), warum sollte man sich die Mühe machen, seine Feinde zu lieben?"

Anmerkungen
- Die Bemerkung Kaufmanns veranschaulicht ganz nebenbei die abstrusen Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten in den überlieferten neutestamentlichen Texten.
- Das Gebot der Feindesliebe steht in Mt 5,43-48.

Wilhelm Nestle (1865-1959) kam in seiner kritischen Analyse des Christentums offenbar zu einer ganz ähnlichen Einschätzung, als er sagte, "dass die Kirchen nun fast 2000 Jahre lang viel mehr Gewicht auf den rechten Glauben als auf das rechte Leben und Handeln ihrer Gemeindglieder legten."

Den folgenden Satz Nestles sehe ich nicht nur als eine treffende Schlussfolgerung aus seiner kritischen Würdigung der "christlichen Ethik", sondern auch als seine Empfehlung an alle gesellschaftlichen Kräfte, die an der Weiterentwicklung und Entfaltung einer säkular-humanistischen Gesellschaft interessiert sind:

"Wir brauchen eine Ethik, die der Wirklichkeit mit ihrer Not, Härte und Grausamkeit tapfer ins Auge schaut, in der an die Stelle des spezifisch Christlichen wieder d a s  M e n s c h l i c h e tritt und die für dieses irdische Leben standhält, gleichviel ob ihm ein jenseitiges folgt oder nicht; eine innerweltliche, von metaphysischen Voraussetzungen unabhängige, natürliche Ethik, die dem Besten im Wesen des Menschen entspricht und die daher wirklich eine Macht in ihm werden kann und ihm ein für ihn erreichbares Ziel zeigt."

Ich meine, es war Albert Schweitzer (1875-1965), der einmal den Unterschied zwischen "Christgläubigen" und "Kirchgläubigen" thematisierte. Ich interpretiere diese Unterscheidung so: Die sog. "Kirchgläubigen" sind zweifellos das Ergebnis der oben skizzierten Fehlentwicklung des Christentums. Daneben gab es aber zu jeder Zeit auch andere, die in den Lehren des biblischen Christus Leitlinien für ihre ethisch fundierte Lebensführung fanden, und die sich gegen die Handlungsweise dogmatisch verblendeter kirchlicher Machthaber auflehnten. Ich gehe davon aus, dass diese Menschen in den schlimmsten Zeiten christlicher Vorherrschaft in großer Zahl zu den verfolgten und getöteten "Ketzern" gehörten.

In einem Wort des Pädagogen und Theologen Gustav Wyneken (1875-1964) spiegelt sich sehr gut die zugrunde liegende Fehlentwicklung unter dem Einfluss des Christentums. Im Kapitel Die christliche Moral seines Buches Abschied vom Christentum schreibt er:

"So wird das, was der moderne Mensch geneigt ist, für das Haupt- und Herzstück des Christentums zu halten, unser kürzestes Kapitel. Es gibt keine spezifisch christliche Moral, das Christentum hat auf moralischem Gebiet nichts wesentlich Neues geschaffen. Wohl aber eine spezifisch christliche Unmoral, die sich in der Geschichte furchtbar ausgewirkt hat, und die der Christenheit noch keineswegs gänzlich aberzogen worden ist. Man nennt sie gewöhnlich Intoleranz []."

Die vorausgehenden Überlegungen machen eines sehr deutlich: Dogmatische Fixierung führte zu dogmatischer Verblendung. Und letztere war die Ursache geistiger Erstarrung, die jeglichen Fortschritt verhinderte. Daher waren Toleranz, Freiheit, Gleichheit, Achtung der Menschenwürde usw. nie "christliche" Tugenden bzw. Werte. Sie mussten vielmehr gegen das Christentum erkämpft werden.

In der Informationsschrift AUFKLÄRUNG im 21. Jahrhundert der giordano bruno stiftung (gbs) sind u. a. die Antworten auf 10 Fragen an die gbs enthalten. In der Antwort auf Frage 7. Sind die Religionen nicht notwendig für die Wertebildung? wird aufgezeigt, "dass die Rede von den »christlichen Werten« einer genaueren Betrachtung nicht standhält":

"Es ist eine historisch unumstößliche Tatsache, dass die fundamentalen Rechte, die wir in modernen Rechtsstaaten genießen, überwiegend nicht den Religionen entstammen, sondern in einem erbitterten Emanzipationskampf gegen die Machtansprüche der Religionen durchgesetzt werden mussten." (mehr s. hier)

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Letzte Frage

Eine gängige theologische Lehrmeinung behauptet die »Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus«. Wenn sich aber «Gott» in Jesus Christus "offenbarte", dann hat nicht Jesus Christus, sondern «ER» ganz persönlich gesprochen – in der sog. »Bergpredigt« und anderswo. Einmal angenommen, dies habe vor rund 2000 Jahren tatsächlich stattgefunden, dann drängt sich doch die Frage auf: Warum hat dieser «Gott», dem die Christen Allmacht, Allwissenheit, Allgüte und weitere Superlative zuschreiben, nicht eine über alle Zweifel erhabene neue, christliche Ethik in die Welt gebracht?

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