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Kam
mit Jesus eine neue Ethik in die Welt? Inhalt
Wie in fast allen zuvor betrachteten Zusammenhängen steht Jesus hier nicht für den historischen Jesus, sondern für den überlieferten biblischen Jesus alias Jesus Christus oder Christus. Und wenn es um eine mögliche neue Ethik geht, die ja vielleicht mit dem Christentum in die Welt gekommen sein mag, stehen der Analyse nur die im Neuen Testament darauf beziehbaren Worte und Gleichnisse zur Verfügung, die in den meisten Fällen nicht vom historischen Jesus stammen, sondern von den spätantiken Verfassern der überlieferten Texte. "Ethos, Ritus und Mythos", mit diesen Begriffen beschreibt der Theologe Gerd Theißen (*1943) in seiner Schrift Das Neue Testament die "drei Ausdrucksformen jeder Religion". Diese Beschreibung klingt plausibel. Gleichbedeutend mit dem Begriff Ethos wird häufig der Begriff Moral verwendet. Beide benennen in der Regel den "Grundbestand sittlicher Verhaltensweisen, die bestimmten Wertvorstellungen bzw. Normen verpflichtet sind". In ähnlichen Zusammenhängen, vor allem im "christlichen" Kontext, wird meist der Begriff Ethik gebraucht. Mit diesem Begriff wird eigentlich eine Teildisziplin der Philosophie bezeichnet, in der es um die Erörterung möglicher Grundlagen einer wertorientierten Gestaltung menschlichen Lebens und Zusammenlebens geht. In der komplexen Gliederung dieses philosophischen Fachgebietes werden Teilaspekte u. a. nach "Art der Begründung ethischer Aussagen" voneinander abgegrenzt. Und da erscheint u. a. "Theologische Ethik", unter der schließlich "Christliche Ethik" eingeordnet ist. Irgendwo fand ich folgende Definition "christlicher Ethik": "eine dem christlichen Glauben gemäße Theorie menschlicher Lebensführung". Im MANIFEST DES EVOLUTIONÄREN HUMANISMUS weist der Philosoph Michael Schmidt-Salomon (*1967) darauf hin, dass "im alltäglichen (ja selbst im philosophischen!) Sprachverständnis die Begriffe Ethik und Moral meist als Synonyme gebraucht werden". Er widerspricht diesem Sprachverständnis und führt aus, "dass es sich bei Ethik und Moral um diametral entgegengesetzte Ansätze zur Begründung von Verhaltensnormen handelt". Seine Begründung wird im Folgenden – gekürzt und unkommentiert – zitiert:
Auch dem amerikanischen Philosophen Ronald Dworkin (1931-2013) war es "... wichtig, zwischen der Ethik, die sich um die Frage der gelungenen Lebensführung dreht, und der Moral, in der es darum geht, wie wir uns anderen gegenüber zu verhalten haben, klar zu unterscheiden." Anmerkung In den folgenden Ausführungen geht es nicht um eine saubere Definition und Abgrenzung der verwendeten Begriffe. Vielmehr geht es um das, was gemeinhin als "christliche Ethik" bezeichnet wird, die auf sog. "christlichen Werten" basieren soll, und die, zumindest vom organisierten Christentum und von anderen interessierten Kreisen, auch für säkulare Gesellschaften als unverzichtbares ethisches Rüstzeug angepriesen wird. Ein wichtiger Aspekt wird natürlich auch die Fragestellung sein, worauf sich die Motivation der "Christen" gründet, ihre Lebensführung an diesen "Werten" auszurichten. Ich behaupte nicht, das betrachtete Thema umfassend bearbeitet zu haben. Da ich jedoch auch hier wieder auf Arbeiten sachkundiger Autoren zurückgreife, hoffe ich, dass insbesondere deren zitierte Gedanken einen klärenden Beitrag leisten werden.
Wenn sich Christen, insbesondere ihre Theologen, über die sog. "christlichen Werte" äußern, dann beziehen sie sich in der Regel auf bestimmte Textstellen in der Bibel. Diese finden sich im Alten Testament bzw. in der Hebräischen Bibel und im Neuen Testament, im "christlichen" Teil der überlieferten Schriften. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit seien im Folgenden einige der einschlägigen Texte genannt:
Anmerkungen
Die folgenden Ausführungen, die sich mit ausgewählten Texten eingehender befassen, werden von der zweiten Frage in der Abschnittsüberschrift begleitet: Wenn man in den Texten schon keine neue, genuin "christliche" Ethik findet, hat sie dann wenigstens wichtige Elemente für eine ggf. auch heute noch akzeptable Ethik geliefert und/oder dazu beigetragen, das sittliche Verhalten der Menschen im christlichen Einflussbereich positiv zu verändern? Als Konfirmand und noch sehr lange danach kam mir nie in den Sinn, die Zehn Gebote zu hinterfragen oder gar zu kritisieren. Das wäre mir wohl als geradezu blasphemisch erschienen. Im Rahmen meiner erneuten Beschäftigung mit ihnen – nach der intensiven Beschäftigung mit anderen fragwürdigen Aspekten des Christentums – ist das nun völlig anders: Ich stelle fest, dass man kein besonders geschulter Exeget sein muss, um die Fragwürdigkeit einiger Gebote sofort zu erkennen. Aus meiner persönlichen Sicht sind insbesondere die ersten und die letzen zwei Gebote ganz und gar inakzeptabel: In den ersten beiden, die die angemessene Verehrung des jüdischen Stammesgottes regeln, dem das Christentum seit nunmehr fast 2000 Jahren ebenfalls huldigt und dem es Allmacht, Allwissenheit, Allgüte oder kurz: Vollkommenheit zubilligt, enthüllt sich bei näherer Betrachtung die Fratze eines altorientalischen Despoten, zu dessen hervorstechenden Charakterzügen Intoleranz und Rachsucht zählen. Und die beiden letzten Gebote definieren in archaisch-patriarchalischer Weise das »Weib«, die »Magd« und den »Knecht«, neben dem »Vieh«, als Besitztümer des »Nächsten«! Eines lässt sich also schon an dieser Stelle vorwegnehmen: Fundamentale ethische Werte moderner Gesellschaften wie Menschenwürde, Meinungsfreiheit oder Gleichheit der Geschlechter lassen sich aus den angesprochenen vier Geboten jedenfalls nicht ableiten. Die im Alten Testament enthaltene Vorlage für die Zehn Gebote (2. Mose 20,2-17), die nach dem Babylonischen Exil des jüdischen Volkes, etwa seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert, in einem langen Prozess entwickelt wurde, erhielt ihre endgültige Form erst mit der Festlegung des Kanons der Hebräischen Bibel um 100 n. Chr. Sie ist demnach bis zu 2500 Jahre alt. Nun ist das Alter dieser Vorlage an sich noch nichts Negatives. Dennoch ist die Frage erlaubt, ob die darauf basierenden Zehn Gebote für Menschen des 21. Jahrhunderts noch relevant sein können. Der Theologe Heinz-Werner Kubitza äußert sich in seinem oben erwähnten Buch Der Jesuswahn, im Kapitel Auf der Suche nach den christlichen Werten, zum "Wert und Unwert der Zehn Gebote". Einleitend stellt er fest:
Nach einer nüchternen, detaillierten Analyse des Dekalogs formuliert Kubitza ein ernüchterndes Resultat:
Anmerkung Beim Philosophen und Theologen Joachim Kahl (*1941) fand ich ebenfalls einleuchtende Gedanken zum Thema. In seinem grundlegenden Buch Weltlicher Humanismus stellt er die Zehn Gebote "auf den Prüfstand" und bescheinigt ihnen einen "archaisch-repressiven Charakter – verdichtet in den ersten drei Geboten":
Anmerkung Joachim Kahl kommt dann bei der Analyse der Gebote vier bis zehn zu einem anderen Ergebnis als Kubitza. Er sieht in ihnen, bei allen festzustellenden ethischen Defiziten, erhaltenswerte Ansätze. Und er sucht nach möglicherweise vorhandenen "unverzichtbaren Regeln des Zusammenlebens", die sich ggf. durch eine Neuformulierung in unsere Zeit hinüberretten ließen. Er schreibt:
Kahl belässt es nicht bei der Kurzform seiner neuformulierten Regeln, sondern legt im Einzelnen dar, was er inhaltlich mit ihnen verbindet. Abschließend stellt er fest:
Anmerkung
Wenn man sich die einzelnen Seligpreisungen näher anschaut, dann beziehen sie sich im Wesentlichen auf Menschen, die ganz bestimmte Eigenschaften besitzen (z. B. »die geistlich arm sind«, »die Sanftmütigen«, »die reinen Herzens sind«) oder um solche, die in unbefriedigenden, ja bedrohlichen, Lebensumständen ausharren müssen (z. B. »die da Leid tragen«, »die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit«, »die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden«). Und all diesen "Ausgezeichneten" werden märchenhafte Belohnungen in Aussicht gestellt: u. a. »ihrer ist das Himmelreich«, »sie werden das Erdreich besitzen«! Nach der neunten Seligpreisung, in der sich Jesus, anders als in den acht vorher aufgezählten, wohl direkt an seine Jünger wendet, folgt das Versprechen: »Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden.« Alle "Ausgezeichneten" werden im Jenseits belohnt. Das ist die zentrale Aussage dieses Textes. Und implizit ergeht der Appell an alle Zuhörer: Strebt danach, zu den "Ausgezeichneten" zu gehören oder anders ausgedrückt: Strebt zu allererst nach eurem persönlichen Heil. Passives Hoffen auf eine unvergleichlich viel bessere Zukunft im »Himmelreich« steht hier also im Vordergrund. Mit keinem einzigen Wort wird so etwas wie das aktive Bemühen um eine Veränderung sozialer Missstände angeregt. Ein derartiges Anliegen stand ganz offensichtlich nicht im Mittelpunkt der Lehre Jesu. Beim deutsch-amerikanischen Philosophen Walter Kaufmann (1921-1980) fand ich eine plausible Erklärung für diese im überlieferten Text sichtbare Tendenz. Er sah die Ursachen in den gesellschaftlichen Umwälzungen und in "der Veränderung des geistigen Klimas" zur der Zeit Jesu:
Ansätze für die Formulierung einer Ethik, die heutigen Ansprüchen an ein solches Regelwerk genügen würden, lassen sich aus den »Seligpreisungen«, sowohl aus individual- als auch aus sozialethischer Sicht, eher nicht ableiten.
Zwei dieser Antithesen habe ich immer als besonders merkwürdig empfunden: »Vom Töten« und »Vom Ehebrechen«. Ich empfand es immer als sehr fremd, dass die im fünften und im sechsten Gebot klar und unmissverständlich formulierten Aussagen – »du sollst nicht töten«, »du sollst nicht ehebrechen« – in unglaublicher Weise verschärft werden. Die strafwürdige Handlung ist im ersten Fall schon vollzogen, wenn man seinen Bruder einen »Narr« nennt und im zweiten Fall, wenn man »eine Frau ansieht, sie zu begehren«. Hinzu kommt, dass die Beschimpfung des Bruders bereits zur Verhängung der Höchststrafe – das höllische Feuer – führt. Der Theologe Heinz-Werner Kubitza ist der Auffassung, dass es sich bei der Antithese »Vom Töten« um ein sehr "leichtfertiges Wort" handele und er ergänzt:
Und hinter der Androhung der denkbar grausamsten Bestrafung für ein vergleichsweise harmloses Vergehen – »du Narr« – wird für Kubitza ein "Menschen- und Weltbild" sichtbar, das "positiv gesagt archaisch, negativ ausgedrückt unmenschlich" ist. Nicht nur auf die eben betrachteten Antithesen bezogen, wenngleich diese als exemplarisch für ähnliche überlieferte Worte gelten können, stellt Kubitza fest:
Der Philosoph Walter Kaufmann (1921-1980) kommt zu einer ganz ähnlichen Einschätzung. Er sieht, dass, gemessen an der "alten Sittlichkeit" im Judentum, von den überzogenen Forderungen Jesu ein eher negativer Einfluss ausgeht:
Der Neutestamentler Gerd Theißen (*1943) beschreibt, im Rahmen seiner Ausführungen über das Matthäusevangelium, welche Funktion der Verfasser diesem Vers im textlichen Zusammenhang zuwies:
Der Theologe Paul Schulz (*1937) äußert sich ähnlich. In seiner Analyse des Gleichnisses »Der Barmherzige Samariter« schreibt er:
Letzteres ist für mich eine typische "Schriftauslegung" nach Theologenart ... Beim Theologen Heinz-Werner Kubitza fand ich Folgendes:
Kubitza scheint den Unterschied zwischen der "Goldenen Regel" im Neuen Testament und ihrer "negativen" Form bei Konfuzius etc. sowie dem auf letztere bezogenen Kinderreim zu übersehen – er nennt sie in einem Atemzug. Anders als Kubitza unterscheidet sein Kollege Schulz die Regelvarianten sehr deutlich voneinander und bewertet die biblische Version viel höher. Ich teile die Auffassung des Theologen Schulz nicht. Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass die negative Form der Goldenen Regel "den Betrachter" mindestens ebenso "unabdingbar in die Solidarität mit dem Betroffenen fordert" wie die (vermeintlich) positive Variante: Kein Mensch wollte, dass ihn jemand unbeachtet liegen ließe, wenn er sich ganz offensichtlich in großer Not befände. Persönlich bevorzuge ich daher die sog. "negative" Form dieser Regel - nach dem Pharisäer Hillel oder als Kinderreim. Sie ist für mich die eigentliche GOLDENE REGEL, die in ganz unterschiedlichen Kulturen so etwas wie einen unverzichtbaren, bewusstseinsbildenden Merksatz bzw. eine konsensfähige, elementare Voraussetzung für eine ethisch verantwortbare Lebensführung darstellt. Ich bin nicht selbst auf den Unterschied zwischen den beiden Regelvarianten gekommen. Erst der deutsch-amerikanische Philosoph Walter Kaufmann (1921-1980) machte mich darauf aufmerksam. In seinem Buch Der Glaube eines Ketzers analysiert er die verbreitete Haltung protestantischer Theologen und argumentiert aus meiner Sicht sehr überzeugend:
Anmerkungen Die neutestamentliche (Goldene) Regel basiert nach meiner Auffassung auf einem Menschenbild, das individuelle Unterschiede negiert oder zumindest ignoriert. Es handelt sich um ein Menschenbild, das im organisierten Christentum bis heute weit verbreitet ist, und das dazu führt, dass "Christen", insbesondere "christliche" Theologen, Gefahr laufen, ihre eigenen Bedürfnisse und Überzeugungen zum Maßstab zu erheben und daher immer ganz genau zu wissen, was ihren Mitmenschen gut tut. In den finstersten Epochen des Christentums war diese Haltung sicher mitverantwortlich für Übergriffe aller Art und für die Ausprägung einer brandgefährlichen Intoleranz gegenüber allen, die anders dachten und sich nicht jeder aufgedrückten Glaubensmeinung ohne Weiteres fügen wollten. Die
eben skizzierten, aus der Geschichte des Christentums hinlänglich
bekannten und vielen neutestamentlichen Texten anhaftenden, "Risiken
und
Nebenwirkungen" treten bei der sog. "negativen"
Form der Goldenen Regel gar nicht erst auf. In
diesem Zusammenhang bin ich auf ein Wort des griechischen Philosophen Epikur (341-271/270
vor Chr.) aufmerksam geworden, in dem sehr überzeugend jene Haltung sichtbar wird,
die insbesondere, und zwar ganz explizit, auch in der "negativen" Form
der Goldenen Regel zum Ausdruck kommt: "Die
Gerechtigkeit ist eine Übereinkunft, die einen Nutzen im Auge hat, nämlich
einander nicht zu schädigen und voneinander nicht Schaden zu erleiden." Wer die von Epikur gemeinte "Übereinkunft" beherzigt und selbstverpflichtend zur Grundlage seiner Handlungen macht, kann dann – und nur dann – natürlich auch nach der im Neuen Testament enthaltenen Verhaltensregel leben: Die in ihr schlummernden "Risiken und Nebenwirkungen" wären damit weitgehend gebannt. Anmerkung Abschließend
greife ich nochmals eine, weiter oben schon erwähnte, Relativierung Walter Kaufmanns
auf. Er
meinte, dass man eine "derartige Formel" – er bezog sich auf die
»Goldene Regel« (in ihrer fragwürdigen biblischen
Fassung) – "auf keinen
Fall überbewerten" dürfe. Ich
meine, dass es auf jeden Fall nicht genügt,
sie zu kennen. Damit Formeln oder Merksätze dieser Art, und das gilt m. E.
grundsätzlich für alle "derartigen Formeln", ihre gewünschte positive Wirkung überhaupt entfalten können,
bedarf es einer unabdingbaren Voraussetzung bei den handelnden Individuen: Es
bedarf einer Fähigkeit, die Christen Nächstenliebe nennen, für die ich eher den
Begriff Empathie verwende. Diese Fähigkeit, die "im Verlaufe der natur-
und kulturgeschichtlichen Entwicklung (des
Menschen) ausgebildet worden" ist (Helmut Groos, s. hier), besitzen
zumindest alle Menschen, bei denen sie nicht durch ungünstige
Sozialisationsbedingungen, während ihrer Kindheit und Jugend, verkümmerte oder
gar verloren ging. Ich
wage zu behaupten, dass sich, unter günstigen Bedingungen, neben dieser – möglichst
unbeschädigt gebliebenen – (Basis-)Fähigkeit, Einsichtsvermögen, Handlungsbereitschaft
und Pflichtbewusstsein ausbilden. Ich kenne zwar keine einschlägigen
soziologischen oder neurowissenschaftlichen Studien zu diesem Thema, meine jedoch, dass auf diese Weise sozialisierte
Menschen wahrscheinlich nicht auf Formeln oder Merksätze als Gedächtnisstütze
oder Handlungsanweisung angewiesen sind, um – ethisch und moralisch – angemessen zu handeln. Im
Übrigen könnte m. E. ein flächendeckender säkularer Ethikunterricht in den
Schulen einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Sozialisationsbedingungen
in Familien und Gesellschaft leisten …
Diesen Spruch habe ich von Theologen und anderen Christen immer wieder gehört, wenn es um die sog. "christlichen Werte" ging, zu denen vor allem die "Nächstenliebe" zählen soll. Er ist mir auch als Appell, als Aufruf zu "christlichem" Handeln begegnet. Nie habe ich gleichzeitig einen Hinweis wahrgenommen, dass dieser Satz aus einem größeren Zusammenhang herausgerissen war. Heute gehe ich davon aus, dass dies aus Unkenntnis geschah oder aber geflissentlich verschwiegen wurde. Den meisten Christen ist wohl nicht bekannt, dass dieser Satz Bestandteil der Rede des "Weltenrichters" Christus ist, der »auf dem Thron seiner Herrlichkeit« das »Jüngste Gericht« vollzieht: »die Schafe zu seiner Rechten« und »die Böcke zur Linken«! Das, was jemand in ähnlichem Zusammenhang einmal geäußert hat, gilt hier ganz besonders: In der eschatologischen Rede zeigt sich der blanke "Terror der Metaphysik der Endzeit". Auch der Neutestamentler Gerd Theißen (*1943) erwähnt den Zusammenhang in seinen Ausführungen über das Matthäusevangelium mit keinem Wort. Vielmehr umschreibt er den Inhalt des letzten Abschnitts dieser "Rede", weitestgehend entschärft, mit den Worten:
Ich halte Theißen zugute, dass er die psychoterroristischen Aspekte des hier diskutierten Bibelausschnitts wohlüberlegt verschweigt. Ich gehe davon aus, dass er, als einer der aufgeklärteren Theologen unserer Zeit, folgende Feststellung Bultmanns kennt und vielleicht sogar gutheißt: »Die mythische Eschatologie ist erledigt« (s. hier). Wer nicht nur die eine Zeile, sondern den gesamten Abschnitt »Vom Weltgericht« nüchtern und unvoreingenommen liest, der kommt fast zwangsläufig zu der Auffassung, dass Christus der "Weltenrichter" in Texten wie diesem als (vorgebliche) göttliche Autorität, vor allem in den unendlich lange andauernden finstersten Epochen des Christentums, zu einem zweifelhaften Zweck missbraucht wurde und in großen Teilen des organisierten Christentums heute noch missbraucht wird: Weniger informierte und eher leichtgläubige Menschen wurden und werden nicht nur zur Autoritätsgläubigkeit verleitet, sondern in unverantwortlicher Weise zu ethisch fragwürdigem Entlohnungsdenken angestiftet. Und letzteres ist das genaue Gegenteil von einem Antrieb zu ethisch verantwortbarem Handeln, der auf eigener Erkenntnis und Einsicht beruht. In seinem Buch Die Entstehung des christlichen Dogmas äußert sich der Theologe Martin Werner (1887-1964) über eine sehr frühe Phase des Urchristentums und über die darauf folgende negative Weiterentwicklung aufgrund der »Parusieverzögerung« und aufgrund der Umformung der frühen Kirche zur "hierarchisch-organisierten, sakramentalen Heilsanstalt". Wenn seine Einschätzung zutrifft, müsste ich ggf. das, was ich im vorausgehenden Abschnitt über das Entlohnungsdenken formuliert habe, zumindest für die früheste Entwicklungsstufe des Christentums, relativieren. Bei ihm lässt sich Folgendes nachlesen:
Ich denke, dass man vielen aktiven Mitgliedern des heutigen organisierten Christentums Unrecht täte, würde man die von Werner kritisch gewürdigte Haltung jener frühen Christen, für die die "Naherwartung" zunehmend an Wichtigkeit eingebüßt hatte, pauschal auf sie übertragen.
Das letztgenannte, das nur im Johannesevangelium vorkommt, stammt nicht von Jesus. Es ist eine Fälschung (s. hier). Ich halte es dennoch für wichtig, weil es über das individualethische Verhalten Jesu hinaus einen sozialethischen Aspekt transportiert: den Anstoß zur Abkehr von archaischer Rechtsprechung und entsprechendem Strafvollzug. Die beiden anderen Gleichnisse sind nur im Lukasevangelium enthalten, daher werden sie auch als "Lukanisches Sondergut" bezeichnet. Niemand weiß mit letzter Gewissheit, ob diese Worte auf den historischen Jesus zurückgehen. Zweifel sind angebracht: Wenn sie auf den historischen Jesus zurückgingen, stellte sich doch die Frage, warum diese wichtigen Worte von Markus und Matthäus unterschlagen wurden. Im Folgenden wird nur das Gleichnis Der barmherzige Samariter näher betrachtet. Ich beziehe mich auf Gedanken des kritischen Theologen Paul Schulz (*1937), der sich zu einem "Atheistischen Glauben" bekennt, sich aber dennoch sehr intensiv mit Jesus auseinandergesetzt hat. Seiner Auffassung nach "war Jesus ganz anders", und zwar "völlig anders als jenes Bild, das die Kirche sich in den letzten 2000 Jahren von ihm gemacht hat." Den kirchlichen Theologen hält er vor, dass sie dies wüssten, es aber nicht sagten. Und er begründet seine Position:
Anhand dieses Gleichnisses arbeitet er Grundzüge der jesuanischen Botschaft heraus. Ich kann nicht allen zustimmen, die folgenden finde ich jedoch plausibel:
«Gott» kommt "als Handlungsmotivation" tatsächlich nicht vor. Das scheinen die Kirchen erfolgreich zu verdrängen. Und noch etwas anderes darf ebenfalls nicht übersehen werden: Jesus predigt Nächstenliebe, hat sie aber nicht erfunden. Auch seine Vorfahren hatten sie nicht erfunden, wenngleich sie die Nächstenliebe zu einer schriftlich fixierten Lebensregel erhoben. Zu jener Regel im Alten Testament muss jedoch relativierend hinzugefügt werden, dass darin ausschließlich die Liebe zum Nächsten im eigenen Volk gemeint war. Im Buch Woran glaubt ein Atheist? würdigt der französische Philosoph André Comte-Sponville (*1952), der sich selbst als "bekennender Atheist" bezeichnet, die Figur des »barmherzigen Samariters« in nachvollziehbarer Weise:
Konsequent setzt er seinen Gedankengang fort und erklärt sehr überzeugend, auf welcher gemeinsamen Basis sich "Gläubige" und "Ungläubige" über die Grundaussage des Gleichnisses verständigen könn(t)en:
Die Tatsache, dass der biblische Jesus einen Samariter zur Hauptfigur des Gleichnisses macht, also den Angehörigen einer Gruppe des jüdischen Volkes, die wegen ihrer vom Jerusalemer Opferkult abweichenden religiösen Riten ausgegrenzt und verachtet wurde, lässt immerhin vermuten, dass Jesus daran lag, die engen Grenzen des eigenen Volkes zu öffnen. Ob er den Gültigkeitsbereich der Nächstenliebe damit schon auf die gesamte Menschheit ausdehnen wollte, womit ja gern der universale Anspruch in der Praxis des organisierten Christentums begründet wird, ist nicht belegt. Der Philosoph und protestantische Theologe Helmut Groos (1900-1996) befasste sich in seinem Buch Christlicher Glaube und intelektuelles Gewissen mit der Herkunft "der christlichen Nächstenliebe und humanitären Güte" und stellte fest, dass sie nicht, wie dies gern von Theologen behauptet wird, auf die "göttliche Liebe" zurückgeführt werden könne,
An dieser Stelle sei ausdrücklich nicht unterschlagen, wie Groos seinen Gedanken fortsetzt:
Verwandte Überlegungen fand ich beim großen Psychoanalytiker und Familien- und Sozialtherapeuten Horst-Eberhard Richter (1923-2011). Im Kapitel Das Urphänomen Sympathie als Disposition für Solidarität und Gerechtigkeit seines in 1979 erschienenen Buches Der Gotteskomplex zeigt er auf, wie sich in der Gesellschaft vorherrschende Bewusstseinsstrukturen und die daraus resultierenden Zwänge auf naturgegebene Eigenschaften der menschlichen Individuen auswirken: "Unter den Zwängen des Machtprinzips und des egozentrischen Rivalisierens wird die als Sympathie ursprünglich und natürlicherweise gegebene emotionale Beziehung unter allen Einzelwesen kaum mehr wahrgenommen. Nach den magischen Denkern der Renaissance waren es wieder Shaftesbury, dann später Schopenhauer, von Hartmann, Bergson und schließlich Scheler, welche die Sympathie als ein soziales Urphänomen und als die eigentliche Chance zur Begründung eines Zusammenlebens in Solidarität herausgestellt haben." Und Richter erschien es als wichtig, "den ursprünglichen und eigentlichen Sinn von Sympathie wiederzubeleben".
Schon nach einer ersten groben Einschätzung lässt sich vermuten, dass die aufgezählten Textstellen keine spezifisch "christlichen" Ideen enthalten. Ganz abgesehen von den alttestamentlichen Schriften, die ja ohnehin aus der Geisteswelt der jüdischen Religion stammen, wurden auch die neutestamentlichen Texte von Menschen aus dem jüdischen Kulturkreis verfasst. Das spiegelt sich ja nicht zuletzt in der Tatsache, dass in diesen "christlichen" Dokumenten immer wieder auf das Alte Testament Bezug genommen wird. Die Verfasser gehörten zudem einem Volk an, das, wie andere spätantike Völker auch, "seine Unabhängigkeit und seine kulturelle Schöpferkraft verloren" hatte, wie dies der deutsch-amerikanische Philosoph Walter Kaufmann (1921-1980) diagnostizierte. Daher ist es eher unwahrscheinlich, dass sie innovative Ideen entwickelten. Wer in den einschlägigen Textteilen gar ein geschlossenes und in sich schlüssiges Konzept einer "christlichen Ethik" sucht, wird enttäuscht. Das gibt es nicht. Das ist bei der vergleichsweise unsystematischen Herangehensweise der spätantiken Verfasser der Texte auch kaum zu erwarten. Der Theologe Heinz-Werner Kubitza befasst sich in seinem Buch Der Jesuswahn mit den Fragen "War Jesu Lehre wirklich neu?", "Hat Jesus eine neue Ethik geschaffen?", und er bezieht sich in seiner Antwort auf Forschungsergebnisse anderer Theologen. Er spannt dabei den Bogen von der Frühaufklärung bis zur Gegenwart:
Mit Blick auf das »Doppelgebot der Liebe« (Mt 22,35-40), "einem offenbar zentralen Topos in der Verkündigung Jesu" und auf das »Gebot der Feindesliebe« (Mt 5,43-48) stellt Kubitza fest:
Im Buch Das Neue Testament des Theologen Gerd Theißen (*1943) fand ich noch folgende Aussage:
An anderer Stelle betont Theißen mit Blick auf das Matthäusevangelium:
Schon an dieser Stelle lässt sich die erste Frage in der Abschnittsüberschrift – Kam mit Jesus eine neue Ethik in die Welt? - mit NEIN beantworten. Damit ist gleichzeitig die Frage nach einer genuin "christlichen" Ethik beantwortet.
Nach einigen Theologen kommt im Folgenden ein Philosoph zu Wort. In seinem Buch An Atheist's Values (Die Werte eines Atheisten) befasst sich der britische Philosoph Richard Robinson (1902-1996) u. a. auch mit "christlicher Ethik". Das Buch geht auf eine Vorlesungsreihe zurück, die er 1964 an der Universität Oxford gehalten hatte. Im Kapitel Religion trägt ein Abschnitt die Überschrift Die Ethik der synoptischen Evangelien. Darin bemerkt er eingangs, dass viele Menschen zu wissen glauben, was unter christlicher Ethik zu verstehen sei. Demgegenüber betont er, dass es durchaus nicht einfach sei, ein klares Bild von dem zu gewinnen, was christliche Ethik genannt wird. Er weist darauf hin, dass in der fast 2000-jährigen Geschichte des Christentums viele Autoritäten – "Kirchenväter oder Bischöfe oder Doktoren oder Theologen oder Päpste" – die Lehre Jesu, soweit sie überhaupt noch erkennbar ist, ergänzten und/oder veränderten. Hinzu käme, dass sich die Thesen der christlichen Autoritäten häufig widersprächen. Er empfiehlt, sich auf die drei synoptischen Evangelien Markus, Matthäus und Lukas zu konzentrieren, weil die darin überlieferten Inhalte der ursprünglichen Lehre der Zentralfigur Jesus Christus wohl am nächsten kämen, was ja auch dem Stand der Bibelforschung entspricht. Robinson las die drei Evangelien in dem Bewusstsein, dass es nicht einfach sei, diese uralten Texte zu verstehen und "korrekt zu interpretieren". Am Ende seiner detaillierten Untersuchungen kristallisierten sich für ihn fünf Hauptgebote Jesu heraus:
Für Robinson folgt daraus eine ganz klare Konsequenz: Ethische Regeln, die in den synoptischen Evangelien nicht vorkommen, später aber vom Christentum aufgenommen und integriert wurden, "tragen das Etikett christlich zu Unrecht". Er stellt darüber hinaus fest, dass bei Jesus keine ausgefeilte Argumentation für die Einhaltung der Gebote zu finden sei, vielmehr nenne Jesus häufig zwei (Beweg)Gründe, bei denen es sich "ausschließlich um Versprechungen und Drohungen" handele:
und
Ich erlaube mir einige weitergehende Gedanken Robinsons aus dem Buch Das Wunder des Theismus des australischen Philosophen John Leslie Mackie (1917-1981) zu zitieren. Sie sind dort sehr gut zusammengefasst:
Mackie zitiert dann aus Robinsons abschließender kritischer Würdigung der synoptischen Evangelien:
Von den fünf Hauptgeboten Jesu, wie er sie aus den synoptischen Evangelien extrahiert hat, hält Robinson nur "Liebt die Menschen", das Gebot der Nächstenliebe also, für akzeptabel. Und das ist, wie oben gezeigt wurde, keine jesuanische oder christliche Errungenschaft. Dennoch ist sie zweifellos wichtiger Bestandteil jener Regeln, die heute mit "christlicher Ethik" umschrieben werden. Es sei erwähnt, dass Mackie dabei eine Einschränkung macht:
Die erste Frage in der Abschnittsüberschrift – Kam mit Jesus eine neue Ethik in die Welt? – wurde schon weiter oben mit einem klaren NEIN beantwortet. Darüber besteht, soweit ich das einschätzen kann, selbst unter Theologen weitestgehend Konsens, zumindest unter den protestantischen. Somit gibt es auch keine Ethik, die man guten Gewissens mit dem Etikett "christlich" versehen könnte. Hat die in den neutestamentlichen Schriften überlieferte "Ethik" das sittliche Verhalten der Menschen positiv verändert? Nachdem schon in der Analyse der relevanten überlieferten Texte die Unzulänglichkeiten dieser "Ethik" deutlich wurden, wird die abschließende Antwort auf diese zweite Frage in der folgenden kritischen Würdigung versucht. Der Altphilologe und Philosoph Wilhelm Nestle (1865-1959) befasst sich in einem Abschnitt seines Buches Die Krisis des Christentums u. a. auch mit der Krisis der christlichen Ethik:
Anmerkung Nestle bescheinigt dem Christentum, dass es "den Menschen den Blick für den Ernst des Lebens und für die Macht des Bösen geschärft" habe. Auch wenn ich letzteres mit einem Fragezeichen versehe, kann ich der Fortsetzung von Nestles Gedanken folgen:
Im weiteren Verlauf seiner Überlegungen stellt Nestle fest, dass die gesellschaftliche Entwicklung seit der Renaissance und der Reformation zeige "wie weit wir über die Enge der christlichen Ethik hinausgekommen sind und wie ergänzungsbedürftig sich diese für das Streben nach vollem Menschentum erwiesen hat." Und er fährt fort:
Und an anderer Stelle bekräftigt er:
Der Philosoph Walter Kaufmann (1921-1980) arbeitete ein charakteristisches, die neutestamentlichen Schriften durchziehendes, "Streben" heraus: "die alles überschattende Sorge des einzelnen um sein ewiges Glück – um sein Seelenheil". Als Mitglied und Kenner der jüdischen Religion liegt es für Kaufmann nahe, die charakteristische Geisteshaltung des frühen Christentums mit jener der jüdischen Religion zu vergleichen:
Anmerkung Der australische Philosoph John Leslie Mackie (1917-1981) weist in seiner Kritik darauf hin, dass der "christlichen Ethik" im Verlaufe der fast 2000-jährigen Geschichte des Christentums, neben bedauernswerten, durchaus auch "eher bewundernswerte Elemente" hinzugefügt worden seien:
Beim Theologen Heinz-Werner Kubitza fand ich unter der Überschrift Abschließendes zur Ethik Jesu folgende Gedanken, einschließlich des Hinweises auf Versuche einer Rechtfertigung der Schwächen dieser Ethik durch Albert Schweitzer (1875-1965) und andere Theologen:
An anderer Stelle schreibt Kubitza über die zweifelhafte ethische Qualität der "Bibel insgesamt":
Demgegenüber drängt sich mir eine andere Schlussfolgerung auf: Die Grundlagen für die heute anerkannten ethischen Werte, z. B. für die in modernen Gesellschaften geltenden fundamentalen Rechte, wurden von "heidnischen" Denkern der griechisch-römischen Antike geschaffen. Der Historiker Rolf Bergmeier (*1940) formuliert schon am Ende des ersten Teils seines Buches Schatten über Europa, in dem er Die antike Kultur im 4. Jahrhundert näher betrachtet, folgendes erstes Fazit:
Und den zweiten Teil seines Buches, der die Überschrift Die Auflösung der antiken Kultur ab dem 5. Jahrhundert trägt, beginnt Bergmeier mit den Worten:
In seiner nachfolgenden historischen Analyse der Ursachen des Verfalls der antiken Kultur weist Bergmeier nach, dass die Hauptursache zweifellos in der zerstörerischen Wirkung des von römischen Kaisern ab 380 endgültig durchgesetzten Christentums zu suchen ist. Diese Wirkung bestand vor allem darin, dass die römischen Kaiser in ihren entsprechenden Edikten skrupellosen Kirchenführern die nötige Rückendeckung dabei boten, mit Hilfe vernunftwidriger Dogmen nicht nur die Religionsfreiheit abzuschaffen, sondern insbesondere auch die Freiheit des Denkens. Eines konnte das organisierte Christentum oder wie Bergmeier es nennt: der "hierarchisch-bürokratische Komplex namens Amtskirche" nicht verhindern, dass sich das Gedankengut griechischer und römischer Denker gewissermaßen in den Untergrund begab, um sich dann zuerst in den, z. T. vom Christentum befreiten, fortschrittlicheren, islamisch beherrschten Gebieten des vorderen Orients, Nordafrikas und Spaniens und später, im Zeitalter der Renaissance, auch im Abendland wieder an der Oberfläche zu zeigen. Es inspirierte dann die geistigen Wegbereiter der Aufklärung, die ihrerseits die Voraussetzungen für die heute vorherrschende Auffassung von einer säkular-humanistisch geprägten Gesellschaft schufen. In diesem Zusammenhang erscheint es mir als sehr naheliegend, erneut auf ein erhellendes Wort des Theologen, Philosophen und Arztes Albert Schweitzer (1875-1965) zurückzugreifen. Ich war in seiner Schrift Aus meinem Leben und Denken darauf gestoßen und habe es schon einmal auf dieser Website zitiert:
Also erst unter dem "Einfluss des Denkens des Aufklärungszeitalters" hat das organisierte Christentum auch die Erkenntnisse nicht-christlicher Denker, wenn auch zögerlich, adoptiert. Es blieb nicht aus, dass die übernommenen Werte – Grundlage individueller Lebensführung und gesellschaftlichen Zusammenlebens – im Sprachgebrauch von Kirchenführern und Theologen zu "christlichen" Werten mutierten. Und dieses Verständnis hat sich schließlich, auch mit Unterstützung anderer interessierter Gruppen der Gesellschaft, im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit fest etabliert – bis heute. Dass damit in weiten Teilen der Bevölkerung der Eindruck herrscht, diese Werte hätten ihren Ursprung im Christentum und seien schon immer Grundlage kirchlichen Handelns gewesen, ist ein fundamentaler Irrglaube. Dieser Irrglaube spiegelt nicht zuletzt den unter den Verfechtern christlicher Glaubensinhalte weit verbreiteten Mangel an intellektueller Redlichkeit wider. Immerhin kann den Kirchen zugute gehalten werden, dass sie, nach ihrer seit dem 4. Jahrhundert für etwa 1500 Jahre ausgeübten Schreckensherrschaft über Leib und Leben, Geist und Psyche der Menschen in ihrem Einflussbereich, schließlich dem Druck der von außen eindringenden Erkenntnisse nachgaben und, zumindest was ethische Werte betrifft, in Teilen eine Wandlung vollzogen. Dass diese Wandlung noch nicht in allen Konfessionen weit genug geht, lässt sich z. B. anhand der römisch-katholischen Sexualmoral aufzeigen. Der Philosoph Michael Schmidt-Salomon (*1967) hat im MANIFEST DES EVOLUTIONÄREN HUMANISMUS dazu Folgendes ausgeführt:
Abschließend sei nochmals der Historiker Rolf Bergmeier (*1940) zitiert, der der "Amtskirche" kein gutes Zeugnis ausstellt: Er bescheinigt ihr, dass sie, "in dem Wahn, direkten und privilegierten Zugang zur Wahrheit zu haben, mit ihrer überbordenden Macht einen unverantwortlichen Missbrauch betrieb und trotz aller Verletzungen, die sie den Menschen zufügte, immer noch behauptet, die Religion der Liebe" zu vertreten. Dabei sprächen "Berge von Zitaten und Gebirge von Untaten gegen diesen unbescheidenen Anspruch."
Am Schluss der Betrachtungen zur "christlichen" Ethik stellt sich mir die Frage, ob das Christentum, trotz aller Unzulänglichkeiten seiner "Ethik", ausgehend vom Grundsatz der Nächstenliebe, die Chance gehabt hätte, eine humanere Welt zu schaffen. Eine Welt, die im Idealfall durch eine Kultur der Solidarität zwischen Individuen und zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen hätte gekennzeichnet sein können. Die Fragestellung erscheint mir, bei näherem Hinsehen, doch als ziemlich naiv. Da die meisten frühen Christen eher einer bildungsfernen Schicht der spätantiken Gesellschaft entstammten, ist kaum anzunehmen, dass sie etwa die Lehren Epikurs (341-271/270 v. Chr.) kannten. So dachten sie nicht im Entferntesten an die von diesem antiken Philosophen modellhaft gelebte "humanistische Solidarität". Das hätte ja auch vorausgesetzt, dass in ihrem Bewusstsein, vor allem aber im Bewusstsein der Protagonisten des frühen Christentums, so etwas wie das vernunftgesteuerte "Streben nach Erkenntnis" verankert gewesen wäre. Leider war das Gegenteil der Fall. In seinem Buch Schatten über Europa weist der Historiker Rolf Bergmeier auf die bildungsfeindliche Haltung bedeutender Apostel, Kirchenväter und Heiliger hin:
Und was wohl noch schwerwiegendere Folgen hatte, war die Kumpanei mit den Mächtigen der "Welt", die spätestens dann besiegelt wurde, als das frühe Christentum im 4. Jahrhundert den Status der Staatsreligion erlangte. Ethische Prinzipien, wenn auch nur ansatzweise vorhanden, wurden unter einem ungezügelten Streben nach Machtgewinn und Machterhalt begraben. Die oben erwähnte Chance war wohl keine realistische Option. Was ist also schiefgegangen im Christentum – und zwar schon von Anfang an? Martin Werner (1887-1964) hat Wichtiges dazu gesagt (s. oben). Hier sei ein Abschnitt daraus wiederholt, in dem die vorausgehenden Überlegungen bestätigt werden:
Mitverantwortlich dafür war, wie Werner aufzeigt, die sog. Parusieverzögerung. Für mich gibt es eine noch bedeutendere Ursache für die katastrophale Fehlentwicklung des Christentums: die Vergottung des Menschen Jesus zur Gottperson Christus. Dieser Vorgang, heute nicht mehr zu verstehen, war für die Menschen der Antike und Spätantike nichts Ungewöhnliches. Seinen Abschluss fand er im 4. Jahrhundert: Der Hauptgegenstand des "christlichen" Vergottungsprozesses wurde damals durch Beschlüsse der Konzile in Nicäa (325) und Konstantinopel (381) – für alle Zeiten – dogmatisch fixiert. Diese Dogmen beschrieben den neuen Gott Christus als ebenso machtvoll wie den vom jüdischen Stammesgott abgeleiteten "christlichen" Vatergott. Es verwundert daher nicht, dass Christus, neben anderen Beinamen, den nicht mehr steigerungsfähigen Hoheitstitel »Pantokrator« erhielt, was soviel bedeutet wie »Weltenherrscher«. Es verwundert ebenso wenig, dass die führenden Köpfe des Christentums sich als erwählte Teilhaber an der (fantasierten) Weltherrschaft ihres erfundenen Gottes sahen, und die von ihnen durchgesetzten Dogmen bedenkenlos als höchst wirksame Instrumente zu absoluter Herrschaft über die Gläubigen und schließlich auch über die "Welt" missbrauchten. Wie oben schon erwähnt lassen sich, nach dem Theologen Gerd Theißen (*1943), die "drei Ausdrucksformen jeder Religion" mit den Begriffen "Ethos, Ritus und Mythos" beschreiben. Durch die eben skizzierte negative Entwicklung im Denken und Handeln der Kirchenführer kam es zu einer ungesunden Verschiebung der Gewichte zwischen den "drei Ausdrucksformen": Der "Mythos" vom göttlichen Christus und der mit ihm verknüpfte "Ritus" erhielten ein ungleich viel größeres Gewicht als das "Ethos". Letzteres verblasste und mit ihm eines seiner wichtigsten Elemente: die Nächstenliebe. Der Grundstein für diese Entwicklung wurde schon in den synoptischen Evangelien gelegt. Der britische Philosoph Richard Robinson (1902-1996) hatte bei der Analyse dieser Schriften fünf Hauptgebote des biblischen Jesus registriert (s. hier). Die beiden ersten und höchsten Gebote lauten: "liebt Gott" und "glaubt an mich". Während bei den Synoptikern noch ein gewisser Rangunterschied zwischen diesen beiden Geboten spürbar ist, gewinnt man beim unbekannten Dichter des Johannesevangeliums, einem religiösen Fantasten mit größenwahnsinnigen Zügen, den Eindruck, dass beide Gebote zu einem verschmelzen. Kapitel 14 dieses Evangeliums, das eine der sieben sog. "Ich-bin-Reden" enthält – »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich« –, beginnt mit den Worten:
Im Kapitel 6 des Johannes-Evangeliums geht es ebenfalls um eine dieser "Reden": »Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten«. Und dort steht ein weiterer folgenschwerer Satz:
Sätze wie dieser haben nicht nur die Mächtigen in der Kirche, sondern auch die unwissenden (Kirch)Gläubigen in ihrem Denken und Handeln zweifellos intensiv beeinflusst. Der Philosoph Walter Kaufmann (1921-1980) stellte einmal fest, dass "Heuchelei" sich "breitmachen" könne, "wo Dogmen und Sakramente im Mittelpunkt stehen." Und er unterstrich seine Feststellung mit dem eben zitierten Satz aus dem Johannesevangelium:
Anmerkungen Wilhelm Nestle (1865-1959) kam in seiner kritischen Analyse des Christentums offenbar zu einer ganz ähnlichen Einschätzung, als er sagte, "dass die Kirchen nun fast 2000 Jahre lang viel mehr Gewicht auf den rechten Glauben als auf das rechte Leben und Handeln ihrer Gemeindglieder legten." Den folgenden Satz Nestles sehe ich nicht nur als eine treffende Schlussfolgerung aus seiner kritischen Würdigung der "christlichen Ethik", sondern auch als seine Empfehlung an alle gesellschaftlichen Kräfte, die an der Weiterentwicklung und Entfaltung einer säkular-humanistischen Gesellschaft interessiert sind:
Ich meine, es war Albert Schweitzer (1875-1965), der einmal den Unterschied zwischen "Christgläubigen" und "Kirchgläubigen" thematisierte. Ich interpretiere diese Unterscheidung so: Die sog. "Kirchgläubigen" sind zweifellos das Ergebnis der oben skizzierten Fehlentwicklung des Christentums. Daneben gab es aber zu jeder Zeit auch andere, die in den Lehren des biblischen Christus Leitlinien für ihre ethisch fundierte Lebensführung fanden, und die sich gegen die Handlungsweise dogmatisch verblendeter kirchlicher Machthaber auflehnten. Ich gehe davon aus, dass diese Menschen in den schlimmsten Zeiten christlicher Vorherrschaft in großer Zahl zu den verfolgten und getöteten "Ketzern" gehörten. In einem Wort des Pädagogen und Theologen Gustav Wyneken (1875-1964) spiegelt sich sehr gut die zugrunde liegende Fehlentwicklung unter dem Einfluss des Christentums. Im Kapitel Die christliche Moral seines Buches Abschied vom Christentum schreibt er: "So wird das, was der moderne Mensch geneigt ist, für das Haupt- und Herzstück des Christentums zu halten, unser kürzestes Kapitel. Es gibt keine spezifisch christliche Moral, das Christentum hat auf moralischem Gebiet nichts wesentlich Neues geschaffen. Wohl aber eine spezifisch christliche Unmoral, die sich in der Geschichte furchtbar ausgewirkt hat, und die der Christenheit noch keineswegs gänzlich aberzogen worden ist. Man nennt sie gewöhnlich Intoleranz […]." Die vorausgehenden Überlegungen machen eines sehr deutlich: Dogmatische Fixierung führte zu dogmatischer Verblendung. Und letztere war die Ursache geistiger Erstarrung, die jeglichen Fortschritt verhinderte. Daher waren Toleranz, Freiheit, Gleichheit, Achtung der Menschenwürde usw. nie "christliche" Tugenden bzw. Werte. Sie mussten vielmehr gegen das Christentum erkämpft werden. In der Informationsschrift AUFKLÄRUNG im 21. Jahrhundert der giordano bruno stiftung (gbs) sind u. a. die Antworten auf 10 Fragen an die gbs enthalten. In der Antwort auf Frage 7. Sind die Religionen nicht notwendig für die Wertebildung? wird aufgezeigt, "dass die Rede von den »christlichen Werten« einer genaueren Betrachtung nicht standhält":
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